© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/12 20. Juli / 27. Juli 2012

Entdeckt diesen Dichter!
Zugang zur Natur, dem Mythos und dem Göttlichen: Rolf Schillings neuer Gedichtband „Lingaraja“
Rainer Hackel

Selten hat es einen verkannteren Dichter gegeben als Rolf Schilling, der 1950 in Nordhausen zur Welt kam und in der DDR zunächst als Dozent für Philosophie, dann als freier Autor tätig war. Obwohl Mitte der neunziger Jahre eine sechzehnbändige bibliophile Ausgabe seiner Gedichte, Dramen, Essays und Tagebücher in der Münchner Edition Arnshaugk erschien, wurde er weder von der Kritik noch von der Literaturwissenschaft wahrgenommen, geschweige denn in seinem Rang gewürdigt. Auch der 1990 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienene Artikel „Ein Schriftsteller der inneren Emigration“ von Uwe Wolff verhalf Schilling nicht zu größerer Bekanntheit.

Das zu Beginn der neunziger Jahre aufflammende Interesse an Werk und Person Rolf Schillings verdankte sich der Wende und der Neugier auf die „Schubladenliteratur der Inneren Emigranten“ (Wolff) in der DDR. Doch schnell hatte man erkannt, daß Schillings Werke in der bundesdeutschen Literaturszene keinen Platz finden würden. So wandte man sich ratlos von dem sperrigen Dichter ab, und alles blieb beim alten: Verschwanden Schillings Gedichte und Essays in der DDR in seiner Schublade, so fanden sie nun, da sie gedruckt vorlagen, nur einige wenige Leser. Von einer breiteren Resonanz konnte und kann keine Rede sein.

Hin und wieder freilich gibt es Ausnahmen, die aufhorchen lassen. So fühlte sich Ernst Jünger von Schillings Gedichten angezogen und zollte dem 55 Jahre jüngeren Kollegen großes, uneingeschränktes Lob. Schon vor der Wende, im Jahre 1980, hatte sich Schilling an Jünger gewandt und wechselte seitdem Briefe mit ihm. Ernst Jünger blieb Rolf Schilling treu und ging in seinem Brief vom 29. Juni 1991, den er in seinem Tagebuchband „Siebzig verweht V“ veröffentlichte, noch einmal auf Schillings Gedichte ein: „Ich lese Ihre Verse mit unvermindertem Genuß und würde Ihre Autorschaft in jeder Strophe erkennen, die mir auf den Tisch flöge. Sie haben, was Baudelaire vom Dichter verlangt: Ihr Webmuster. Daher finde ich keine Vergleiche – nicht einmal den naheliegenden mit Stefan George. Sie sind nicht elitär, sondern fundamental, und eher isländisch als meridional. Man müßte schon auf die Skalden zurückgreifen. Das ist nicht modern und nicht nur heute, sondern schon seit Ossian fast verrufen, trotzdem haben Sie Ihr Zeichen in die Esche geritzt und lassen sich hoffentlich nicht beirren dabei.“

Und der Schriftsteller Martin Mosebach, dem ich kürzlich Schillings Essayband „Kreis der Gestalten“ schenkte, schrieb mir nach der Lektüre: „Ich staune über Schilling. Staune auch da, wo ich mich nicht mit ihm einig weiß. Ein außerordentlicher, kühner, freier Geist – eine Entdeckung.“

Das letzte Gedichtbuch des Dichters erschien vor fünfzehn Jahren innerhalb der Werkausgabe. Der Telesma-Verlag hat nun in einem bibliophilen, über 300 Seiten starken Band mit dem Titel „Lingaraja“ und zu einem kostengünstigen Preis eine Auswahl der seitdem entstandenen Gedichte veröffentlicht.

Wer sich auf Rolf Schillings Gedichte einläßt, betritt fremde und zuweilen auch unheimliche Welten, die von Göttern, Questern und Holdern, aber auch von Faltern, Schlangen und Einhörnern bevölkert sind. Wir werden von dem Dichter an Opfersteine, Quellen und in den Harz geführt, aber auch nach Angkor, China und in Traum-Welten entführt.

Dann finden sich unter Schillings Gedichten aber auch zarte, anrührende Gebilde, in denen die Natur ihre Seele offenbart, ohne je ihr Geheimnis preiszugeben. So hebt das Gedicht über die Clematis mit den Versen an: „Geh in der späten Sommerstunde / Zum Garten, wo Clematis rankt, / Der, schwebend über trübem Grunde, / Dein Abend seinen Glanz verdankt.“

Anders als in der Romantik, etwa bei Eichendorff, verspürt das lyrische Ich bei Schilling keine unerfüllbare Sehnsucht nach der Natur: Es erlebt die Natur als poetischen Traum, von dem es sich verzaubern läßt, indem es „des Tages Bleiche“ entrückt wird. Unermüdlich beschwört Schillings poetisches Werk den Traum, und mit radikaler Folgerichtigkeit verweigert sich der Dichter nicht nur der gesellschaftlichen und politischen Realität, sondern auch der durch Technik und Internet geprägten Gegenwart, die er aus dem Gedicht verbannt. Denn – so heißt es im Tagebuch – „es geht ums Ganze, es ist ein Kampf auf Leben und Tod“.

So ist es der von Schilling durchlittene Nihilismus der Moderne, dem sich der vom Gesang ins Leben gerufene Traum verdankt. Der von Schilling behauptete Primat des Poetischen vor dem Wirklichen erinnert an Nietzsches Wort, daß das Dasein der Welt nur als „ästhetisches Phänomen“ gerechtfertigt sei. Allerdings verleiht Schilling Nietzsches Einsicht eine überraschend radikale Bedeutung, denn weder geht es dem Dichter um ästhetische Sublimierung und Erlösung der gesellschaftlichen und zeitgeschichtlichen Wirklichkeit, noch will er der Realität durch deren ästhetische Verklärung einen Sinn verleihen.

Schillings Bestreben läuft vielmehr darauf hinaus, einer Zivilisation, von der die Natur im planetarischen Ausmaß zerstört wird und überlieferte kulturelle und religiöse Traditionen ausgehöhlt und nihilistisch relativiert werden, den zur Dichtung geronnenen Traum entgegenzusetzen. Dabei ist es Schillings Überzeugung, daß der Mensch auch heute noch Zugang zu den „Quellen“ – der Natur, dem Mythos und dem Göttlichen – besitzt, zu denen der Dichter in seinem Gesang vordringt und ihre Gestalten zu neuen Bildern formt.

Daraus erklärt sich auch Schillings Festhalten an traditionellen Gedichtformen, an Reim und Rhythmus, sollen seine Gedichte doch nicht die Widersprüche und den Sinnverlust der Gegenwart widerspiegeln, sondern der Entzauberung der Welt durch die ästhetische Berückung, die nur das Vollkommene hervorzurufen vermag, entgegenwirken.

Nicht wenige Gedichte schildern die einem Ritual gleichkommende poetische Initiation. Schon das erste Gedicht des Buches mit dem lapidaren Titel „Waldgänger“ nimmt den Leser an der Hand und führt ihn in die Geheimnisse von Schillings poetischer Welt ein: „Tritt ein und nimm die Binde von den Augen, / Dies ist der grüne Tempel deines Traums“. Nachdem der Waldgänger in zwölf langen Strophen, Pflanzen und Tiere benennend, in das wunderbare Leben des Waldes eingetaucht ist, begegnet er dem „Gott der Wälder“, aus dessen „Klauen“ er das „Gold des Traums“ erhält – die Initiation ist auf spielerisch-heitere Weise gelungen.

In einem der zartesten Gedichte des Buches mit dem Titel „Im Corallen-Haus“ greift der Dichter das Thema der poetischen Initiation wieder auf: „Wo sich Wunsch und Wille / Wie ein Hauch verliert / In der Muschelstille, / Die das Licht gebiert, / Stieg aus blauen Tiefen / Weißer Kämme Schnee, / Wars, als ob dich riefen / Stimmen aus der See.“

Wer sich in Schillings neues Gedichtbuch „Lingaraja“ – der Name eines hinduistischen Tempels in Indien – vertieft, kommt aus dem Staunen nicht heraus: Welcher Reichtum an Bildern und Gesichten, welche Virtuosität in der Wahl der Gedichtformen und sprachlichen Mittel, welch berückende Lautmagie! Es ist wahrlich an der Zeit, den Dichter Rolf Schilling zu entdecken!

www.rolfschilling.de

Rolf Schilling: Lingaraja. Telesma-Verlag, Treuenbrietzen 2012, gebunden, 316 Seiten, 19,80 Euro

 

Neun

Neun sind der Zeiten

Und neun der Speere,

Die wir umschreiten

In Sprung und Kehre.

Neun Monde geben

Das Maß der Tracht,

Neun Falter weben

Am Saum der Nacht.

(…)

Neun Götter lenken

Des Alls Entschlüsse,

Neun Musen schenken

Dem Dichter Küsse,

Neun Holder walten

In Herrlichkeit,

Neun Himmel halten

Den Tau bereit.

(…)

Neun sind der Haine,

Und neun der Weiser,

Dann kommt der Eine,

Er kappt die Reiser.

Neun Schläge fallen

Im Nebel spät,

Neun Häupter lallen,

Vom Schwert gemäht.

Neun Steine, schwere,

Das Grab verschließen,

Vom Quell der Speere

Neun Lilien sprießen,

Neun Borne schäumen

Im Schoß der Nacht,

Neun Häupter träumen,

Bis eins erwacht.

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