© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/12 20. Juli / 27. Juli 2012

Das zersplitterte Volk des Morgenlandes
Der Historiker Eugene Rogan über die Geschichte der arabischen Welt von der Frühen Neuzeit bis zur „Arabellion“
Tilman Nagel

Der Stoff ist uferlos. „The Arabs. A History“ lautet der Titel der 2009 erschienenen Originalausgabe. Der Autor Eugene Rogan, Direktor des „Middle East Centre“ an der Universität Oxford, schreibt eine Geschichte der arabischen Welt vom frühen 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Weshalb er die Eroberung Syriens und Ägyptens durch den osmanischen Sultan Selim I. (regierte von 1512–1520) zum Ausgangspunkt wählt, erfährt man nebenbei: Zum ersten Mal seien die Geschicke der Araber in einer nichtarabischen Metropole bestimmt worden; dies sei die „politische Realität, die zu einem prägenden Merkmal der modernen arabischen Geschichte werden sollte“. Diese Behauptung ist falsch. In den formal zum Osmanischen Reich gehörenden arabischen Territorien konnte die Herrschaft Konstantinopels nur auf unterschiedliche, meist eher mittelbare Weise durchgesetzt werden, und mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert lockerte sich der Zugriff auf wichtige Teile des Reiches – Ägypten, Tunesien, die Arabische Halbinsel – vollends.

Zudem traten europäische Mächte als informelle Konkurrenten Konstantinopels auf, die den geschickten Despoten in der arabischen Welt neue Möglichkeiten des Taktierens gegenüber dem Sultan eröffneten. Rogan ist sich dessen bewußt, und so bleibt der von ihm postulierte Deutungsansatz unerfüllt. Dringlicher als zuvor wird nun ein Problem: Wie soll man angesichts eines Gemenges von Machtinteressen, die auf einem Territorium vom Atlantik bis zum Persischen Golf miteinander streiten, die Fäden der Erzählung in der Hand behalten? Eine Lösung hat der Autor nicht gefunden.

Gut geschrieben und in sich stimmig ist das Kapitel über Muhammad Alis (gestorben 1849) Herrschaft in Ägypten, die Geschichte einer von oben verordneten Modernisierung und ihrer Folgen. Aber schon im nächsten Kapitel „Die Gefahren der Modernisierung“ muß der Autor mit derart vielen Bällen jonglieren – Reformen im Osmanischen Reich, Libanonkrise, Verfassung in Tunesien, Staatsbankrott in Tunis, Konstantinopel und Kairo –, daß dem Leser beim Hinschauen schwindelig wird, sofern er nicht bereits mit den geschilderten Vorgängen vertraut ist. „Die erste Welle des Kolonialismus: Nordafrika“ heißt das Kapitel, in dem die Verfestigung informeller Herrschaft zum Kolonialismus dargestellt wird. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsteht eine politisch-religiöse Deutung dieses Geschehens, die spätestens nach dem Ersten Weltkrieg eine bis heute andauernde Wirkmächtigkeit entfaltet. Der Wiederaufstieg Arabiens wird zweitrangig, es geht vor allem um die Erneuerung der Weltgeltung des Islams. Von dieser Deutung erfährt der Leser nur am Rande. Er wird nicht auf das Gewicht dieser Ideen hingewiesen; im späteren Kapitel „Die Macht des Islam“ kommt der Autor nicht auf diese Ansätze zurück. Er erörtert den Aufstieg der Muslimbrüder, als wären sie aus dem Nichts gekommen.

Heterogen sind auch die folgenden Kapitel, die sich mit den Geschicken der Araber nach dem Ersten Weltkrieg, mit dem britischen und dem französischen Kolonialreich im Nahen Osten sowie mit Palästina befassen. Stets spürt man die Not, das chronologische Fortschreiten der Darstellung mit der Vielschichtigkeit des Beschriebenen zu einem Ausgleich zu bringen, was oft nur mittels überraschender Rückblenden gelingt. Dann folgt der „Siegeszug des arabischen Nationalismus“. Der Hauptheld dieses Kapitels ist Gamal Abdel Nasser, doch auch die marokkanische Unabhängigkeitsbewegung, die Kämpfe im Libanon von 1958 und die irakische Revolution desselben Jahres werden besprochen. Aber gibt es einen arabischen Nationalismus wirklich erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts? Vielleicht wurde in einem der vorangehenden Kapitel einiges zur Klärung dieser Frage gesagt – was tatsächlich der Fall ist. Ein Sach- und Begriffsindex, der dem Leser gerade angesichts der sprunghaften Darbietung des Stoffes von größtem Nutzen wäre, fehlt leider.

Den „Niedergang des arabischen Nationalismus“ belegen unter anderem das Scheitern der Vereinigten Arabischen Republik, der Krieg Nassers im Jemen, der Sieg Israels im Sechstagekrieg, die Entstehung palästinensischer Befreiungsbewegungen und bizarrerweise der Kampf um die Unabhängigkeit Algeriens. In diesem Kapitel wird besonders deutlich, was auch für die restlichen – „Das Ölzeitalter“, „Die Macht des Islam“, „Nach dem Kalten Krieg“ – gilt: Die Kapitelüberschriften geben allenfalls einen vagen Beleg für Bemühungen des Autors um eine Erschließung des Stoffes, nach der es den Leser je mehr verlangt, desto weiter er mit der Lektüre fortschreitet.

Wegen dieses Mangels geht ihm der mit meist banalen Anekdoten durchsetzte Plauderton, in dem dies alles vorgetragen wird, allmählich auf die Nerven. Auf 150 Seiten mag das ganz nett sein, 700 Seiten davon sind einfach zuviel! Als Wissenschaftler hat man noch anzumerken, daß der englischsprachige Autor jegliche nichtenglischsprachige Forschungsliteratur ignoriert. Üblicherweise beschönigt man diesen inakzeptablen Mangel mit der angeblichen Weltgeltung angloamerikanischer Wissenschaft; in Wahrheit ist es ein Beleg für einen befremdlichen Provinzialismus.

Als die deutsche Ausgabe entstand, lief gerade die sogenannte „Arabellion“. In einer für die deutsche Ausgabe geschriebenen Einleitung faßte der Autor in der uns bekannten Manier diese Ereignisse zusammen. Sein Fazit: Es ist eine „wahre Herkulesaufgabe“, die geweckten Erwartungen zu erfüllen. Der Verlag sah sich gerechtfertigt, dem Werk einen aktualisierten Untertitel zu geben: „Eine Geschichte von Unterdrückung und Aufbruch“, die in die Errichtung von Staaten nach westlichem Vorbild münden soll (Text auf dem Umschlag). Am Ende des Buches selber ist allerdings davon die Rede, daß die arabische Welt die Unterordnung unter die Regeln anderer Völker abzuschütteln im Begriff sei – eine Erinnerung an das früh aufgegebene Deutungsmuster?

 

Prof. Dr. Tilman Nagel lehrte von 1981 bis 2011 Arabistik an der Universität Göttingen.

Eugene Rogan: Die Araber. Eine Geschichte von Unterdrückung und Aufbruch. Propyläen Verlag, Berlin 2012, gebunden, 736 Seiten, 26,99 Euro

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