© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/12 20. Juli / 27. Juli 2012

Der Flaneur
Eifersucht im Biergarten
Paul Leonhard

Es ist schwül. Biergartenwetter. Ich sitze zum Feierabend auf der Terrasse einer kleinen Gaststätte. Vor mir ein Pilsner. Ich blättere in einem Reclam-Büchlein. Die Sätze sind wohlgewählt und viel zu lang. Ich erwische mich, wie ich aus dem Buch rutsche und statt dessen dem Mann am Nachbartisch lausche. Ein Mitsechziger, der gerade einem Freund per Handy seine Urlaubserlebnisse erzählt.

Karla bedient mich. Grüne, ärmellose Bluse, orientalisch geschnittene braune Hosen, lange kastanienbraune Haare. Auffallend hübsch ist die kleine Freundin von Igor, dem Kellner, und deswegen wacht er eifersüchtig über sie. Am Himmel zieht ein Gewitter auf. Schwere Wolkentürme schieben sich auf die mächtigen Türme der Kirche zu. Diese wird in ein unheimliches Licht getaucht. Erst rötlich, einen Moment später dunkelblau, dann reißt kurzzeitig die Wolkendecke auf und es blinkt Azur. Flächenblitze rasen über die dunkle Wand. Laut grollt der Donner.

Nach meinen Berechnungen zieht das Gewitter an uns vorbei, aber Igor ist anderer Ansicht. Er dirigiert eine Reisegruppe rasch ins Innere der Kneipe. „Willst du sitzen bleiben?“ fragt er mich. Ich nicke und antworte in tiefster Überzeugung: „Das zieht vorbei.“ Igor schüttelt den Kopf und beginnt zusammen mit Karla das Geschirr reinzuräumen, die Sitzkissen, die Blumen, das Elektrokabel der Außenbeleuchtung. Als er die Schirme schließt, öffnet der Himmel tatsächlich wie aus dem Nichts seine Schleusen.

Auch ich eile ins Innere. Alles besetzt, bis auf den Tisch, an dem Karla sitzt. Sie winkt. Ich setze mich hin. Wir unterhalten uns. Igor schaut scheel vom Tresen rüber, während er Gläser spült. Die Zeit vergeht. Dann steht er am Tisch: „Du kannst dich wieder raussetzen, das Gewitter ist vorbei. Ein Bier bringe ich gleich.“ Das gilt mir, nicht Karla.

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