© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  32/12 03. August 2012

Lockerungsübungen
Zeit zum Überlaufen
Karl Heinzen

Das Engagement der Nato und ihrer Verbündeten in Afghanistan geht seinem Ende entgegen, der Abzug der Truppen soll im Jahr 2014 abgeschlossen sein. Dem Karzai-Regime werden dann nur noch wenige westliche Berater und Ausbilder zur Seite stehen. Ansonsten wird es seine Macht alleine behaupten müssen. Die Chancen, daß ihm dies gelingt, sind nicht hoch. Viele Afghanen stellen sich daher schon heute zwei Fragen: Wer wird nach 2014 das Sagen im Lande haben? Und: Wann ist der richtige Zeitpunkt gekommen, um die Seiten zu wechseln.

Die erste Frage läßt sich einfach beantworten: Den Aufständischen wird eine Teilhabe an der Macht nicht verwehrt werden können. Bereits seit längerem laufen Gespräche, wie dies ins Werk gesetzt werden kann, ohne daß der Westen einen Gesichtsverlust erleidet und die Parteigänger der von ihm gestützten Regierung um Leib und Leben fürchten müssen. Mögen vielleicht auch die Anführer der Taliban und der Mudschaheddin in der Ämtervergabe leer ausgehen: Nach 2014 wird in ihrem Geiste regiert werden. Schon heute gibt sich Karzai alle Mühe, den Eindruck entstehen zu lassen, als wäre er selber ein Taliban. Den Westen, der gerne eine aufgeklärte Zivilgesellschaft und einen Rechtsstaat hinterlassen hätte, mag dies betrüben. Er kann sich jedoch trösten, daß die islamistischen Ultras, die in Zukunft das Heft in der Hand haben werden, im Gegensatz zum 2001 gestürzten Taliban-Regime demokratisch legitimiert sein dürften.

Die zweite Frage ist erheblich komplizierter. Generell läßt sich sagen: Je früher man die Seiten wechselt, desto glaubwürdiger kann man sich den Machthabern von morgen andienen. Die 20 afghanischen Wachleute in der Provinz Urusgan, die vor einigen Tagen von australischen Soldaten geschlagen worden waren und aus Empörung zu den Taliban überliefen, handelten daher vernünftig, nicht anders als ein Polizeichef und zwölf seiner Mitarbeiter, die sich kurz zuvor in der Provinz Farah abgesetzt haben. Dieses Kalkül kann aber nur für jene gelten, die so sentimental sind, daß sie für sich eine Zukunft in Afghanistan sehen. Wer sein Heil hingegen in der Emigration sucht, sollte bis zum letztmöglichen Moment dem Karzai-Regime die Treue halten. Er darf dann darauf bauen, daß er in irgendeinem westlichen Land schon Asyl finden wird.

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