© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  32/12 03. August 2012

Gelbe Tragödie – Sehnsucht nach Himmelblau
Landtreter oder Meerschäumer: Angesichts der Herausforderung durch die USA sucht China nach einer neuen nationalen Identität
Peter Kuntze

Im November letzten Jahres erklärte US-Präsident Barack Obama in einer Grundsatzrede vor dem australischen Parlament in Canberra: „Ich habe die wohlüberlegte und strategische Entscheidung getroffen, daß die USA als pazifische Macht eine größere und langfristige Rolle bei der Gestaltung dieser Region und ihrer Zukunft spielen werden.“ Damit zielte Obama auf das sich zur neuen Weltmacht entwickelnde China, das auf die amerikanische Herausforderung bald eine Antwort finden muß. Angesichts der Globalisierung kann sich die Volksrepublik schließlich nicht mehr wie einst das „Reich der Mitte“ von der Umwelt abschotten. Vielmehr muß Peking alles daransetzen, das Südchinesische Meer als sein Tor zur Welt und besonders die Straße von Malakka wegen der lebenswichtigen Rohstoff- und Energieimporte offenzuhalten.

Den Kontinentalkoloß China zu einer Seemacht zu entwickeln, obliegt somit der neuen Führung, die im Oktober für die nächsten zehn Jahre die Amtsgeschäfte übernehmen wird. Als Nachfolger des Staats- und Parteichefs Hu Jintao gilt sein Stellvertreter, der 58jährige Xi Jinping. Während der als „Chinas Breschnew“ bespöttelte Hu seit 2002 die auf Stabilität abzielende konfuzianische Doktrin der „harmonischen Gesellschaft“ wie ein Mantra propagiert, werden von Xi Visionen erwartet, die eine neue nationale Identität begründen könnten. Bis heute nämlich fragen sich viele seiner Landsleute, warum der Glanz der chinesischen Kultur, die mehr als tausend Jahre an der Weltspitze rangiert hatte, seit dem 17. Jahrhundert erloschen sei. Warum sei das „Reich der Mitte“ in einen Zustand des Verfalls geglitten, während im Westen Technik und moderne Wissenschaft Triumphe gefeiert hätten?

Eine mögliche Antwort gab eine bereits vor 25 Jahren produzierte Fernsehserie, die 1988 zweimal landesweit über Chinas Bildschirme flimmerte. Das Echo war damals so heftig und so kontrovers, daß Universitäten Diskussionsforen veranstalteten und Zeitungsredaktionen mit Leserbriefen überschwemmt wurden, denn die Filmemacher hatten an Chinas heiligsten Gütern gerüttelt: am Gelben Fluß, an der Großen Mauer, am Drachen – mithin an den Jahrtausende alten Symbolen der Stärke und der nationalen Identität. „Heshang“ hieß der Film – nach der gleichnamigen Tragödie eines altchinesischen Dichters. He steht dabei für Huanghe („Gelber Fluß“), shang für den vorzeitigen Tod. Der Titel war gleichsam die Botschaft: Die Huanghe-Zivilisation, auf die China stets so stolz war, geht den Autoren zufolge ihrem Untergang entgegen; es sei daher höchste Zeit, sie zu erneuern.

Der als „Wiege der Nation“ besungene Huanghe sei mit seinen Überschwemmungen in Wahrheit eine Geißel Chinas. Sein Mythos beinhalte die Abkapselung des Landes, die mangelnde Kreativität und Risikobereitschaft seiner Anwohner, ihre Selbstgenügsamkeit und nationale Überheblichkeit. Agrar- statt Industriegesellschaft, Kontinental- statt Meereszivilisation – in dieser Entwicklung liege Chinas Tragödie begründet. In der Löß-Hochebene verwandelt sich der Huanghe in einen gelbschlammigen Strom. Nicht von ungefähr nannten die Chinesen ihren frühesten Ahnherrn, den Reichseiniger und Erbauer der Großen Mauer, Huangdi („Gelber Kaiser“); er stellte die Personifizierung des gelben Bodens dar, auf dem die Menschen gelber Hautfarbe gelben Reis (Hirse) anbauten, in gelben (Löß-)Höhlen wohnten und das gelbe Schlammwasser tranken. Wer den Kaiserthron bestieg, zog gelbe Kleider an, verbrachte sein Leben unter Dächern mit gelbglasierten Ziegeln und begab sich nach dem Tod zur „Gelben Quelle“.

Den TV-Autoren zufolge ließ der Kult um den gelben Boden und den gelben Fluß, neben der Philosophie des „Reiches der Mitte“ und des „Himmelskaisers“, zahlreiche Mythen entstehen –so den Mythos des Drachen. Habe man jemals nachgedacht, warum man dieses häßliche Ungeheuer verehre, fragten 1988 die Drehbuchautoren und gaben selbst die Antwort: Für ein großes Agrarland mit einer langen Geschichte sei Wasser die Quelle des Lebens. In der Mythologie aber werde das Wasser vom Drachenkönig beherrscht. Deshalb habe man ihn geliebt und gehaßt, gepriesen und verflucht, denn wie unter den Menschen der Kaiser sei in der Natur der Drache ein Tyrann. Keine andere Nation habe den Kult um den Boden so intensiv betrieben und so stark in ihrer Psyche verankert. Zudem habe die geographische Lage mit dem Einzugsgebiet des Gelben Flusses als Zentrum einen Isolierungsmechanismus gebildet und dazu geführt, daß die chinesische Kultur immer introvertierter geworden und, statt etwas Neues zu wagen, nur auf Stabilität bedacht gewesen sei.

Und die Große Mauer? Im TV-Film hieß es: „Man ist stolz auf sie als ein einzigartiges Bauwerk der Menschheit, das man vom Mond aus zu erkennen vermag. Man bezeichnet sie sogar als ein Symbol für die Blüte Chinas. Aber wenn die Große Mauer sprechen könnte, würde sie den Nachkommen des Huangdi ehrlich sagen, daß sie ein Produkt des historischen Schicksals ist – und nicht Stärke, Fortschritt und Ruhm, sondern Abkapselung, Konservatismus, unwirksame Defensive sowie Schwäche und Furchtsamkeit verkörpert. Wegen ihrer Größe und langen Geschichte hat sie indes Selbstzufriedenheit und Selbst-täuschung tief in die Seele unserer Nation eingebrannt.“

Den Ausgangspunkt der divergierenden Entwicklung der Weltkulturen machten die „Heshang“-Autoren im 15. Jahrhundert aus. Jene Epoche sei entscheidend für die ganze Menschheit gewesen, denn damals habe sich das Augenmerk erstmals von den Kontinenten auf die Ozeane gerichtet: „Dem Osten wie dem Westen bot die Geschichte die gleiche Chance. Sowohl der Pazifik als auch der Indische Ozean und der Atlantik standen allen Nationen offen. Aber China, das weiter im Bann des Kontinents stand, verpaßte diese Chance.“ Zwar gehörte China jahrhundertelang auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik zu den führenden Nationen – aber, so klagten die Filmautoren, obwohl Chinesen als erste Raketen bauten, flogen sie nicht als erste ins All; obwohl sie Papier und Buchdruck erfanden, kam es im Land zu keiner Explosion des Wissens; obwohl sie den Kompaß entwickelten, stieg China nie zu einer Seemacht auf.

Trotz der großen Entdeckungsreisen des berühmten Seefahrers Zheng He, der im 15. Jahrhundert mit einer Dschunken-Flotte den Westpazifik und den Indischen Ozean durchkreuzte und bis zum Persischen Golf segelte, sei China eine Landmacht geblieben. Dabei habe Zheng He seiner Heimat schon damals den einzig richtigen Weg in die Zukunft gewiesen: „Wenn China wachsen will, darf es nicht das Meer ignorieren. Reichtum kommt vom Meer, genauso wie die Gefahr. Wenn andere Länder das Meer kontrollieren, wird China in Gefahr sein.“ Doch aus Ignoranz und Überheblichkeit sei Zhengs Vermächtnis in den vergangenen Jahrhunderten nie eingelöst worden, obwohl es bis heute gültig und von höchster Aktualität sei.

Den Ausweg aus dieser Misere sah der Film in der Überwindung traditioneller Werte und in der Öffnung zur Welt: „Der Rückstand der alten Zivilisation lagerte sich wie der Schlamm des Huanghe in den Adern unserer Nation ab. Der Gelbe Fluß braucht daher ein reinigendes Hochwasser, und das ist bereits gekommen; die industrielle Zivilisation. Nur der Wind des himmelblauen Meeres kann Regen bringen, aus dem die Loß-Hochebene wieder Vitalität schöpfen kann.“

In der Reaktion auf diesen provozierenden Film spiegelte sich schon vor 25 Jahren Chinas Alternative wider – jenseits aller ideologisehen Systeme. Während damals die einen (wie der 1989 gestürzte KP-Chef Zhao Ziyang) die Serie begrüßten, sprachen andere von einem „Machwerk des nationalen Nihilismus“; die Autoren hätten den Huanghe, Huangdi, ja, sogar die (kaiserliche) gelbe Farbe und die gelbe Rasse als ein pessimistisches Symbol gebrandmarkt und die 5.000jährige Kultur verunglimpft. Doch die nationale Identitätskrise, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts schwelt, dauert bis heute an. Auch die Antworten, die in den vergangenen Jahrzehnten der sinisierte Marxismus gab, haben sich als hohl und oberflächlich erwiesen, da sie über einen – wenngleich durchaus beeindruckenden – konsumistischen Materialismus nicht hinausgehen. Ob und wie diese fundamentale Krise gelöst wird, ist entscheidend nicht nur für China und sein Verhältnis zu den USA, sondern wird in den kommenden Jahren die gesamte Weltpolitik beeinflussen.

Im Kern handelt es sich um ein Machtringen innerhalb der chinesischen KP, bei dem sich Konservative und Liberale gegenüberstehen. Legt man das ideologische Konzept des Marxismus zugrunde, handelt es sich bei den Konservativen um die orthodox-linken Kräfte, während die Liberalen den rechten Parteiflügel bilden. Eine Vorentscheidung könnte bereits im März mit der Entmachtung Bo Xilais, des mächtigen KP-Chefs der Millionenstadt Chongqing, gefallen sein. In der zentral chinesischen Jangtse-Metropole hatte Bo, dessen Frau derzeit wegen eines dubiosen Mordfalls unter Anklage steht, eine spätmaoistische Kampagne gestartet, indem er die Stadt rot beflaggen und ihre Bürger alte Revolutionslieder wie die Hymne „Der Osten ist rot“ anstimmen ließ. Den regionalen TV-Sendern hatte er die Ausstrahlung von Werbung verboten und sie statt dessen aufgefordert, mehr über seine „roten Kampagnen“ zu berichten.

Gleichzeitig hatte er sich über die nationalen Medien heftige Wortgefechte mit Wang Yang geliefert, dem liberalen Parteichef der südchinesischen Küstenprovinz Guangdong. Wang, der auf eine schlanke Regierung setzt, plädiert für die Ausweitung der Reformen auf die gesamte Gesellschaft und preist seine Provinz, die die reichste und freieste des ganzen Landes ist, als nationales Vorbild. Somit scheint der Machtkampf vorerst zugunsten der Reformer ausgegangen zu sein.

 

Peter Kuntze, ehemaliger Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, ist Autor mehrerer Bücher über China.

Foto: Marinesoldaten der chinesischen Volksbefreiungsarmee marschieren 2002 im Hafen der südkoreanischen Stadt Incheon von Bord: „Wenn China wachsen will, darf es nicht das Meer ignorieren“

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