© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  32/12 03. August 2012

Es kommt nur auf den schönen Schein an
Vom Monte Verità bis zur Berliner Republik: Der Journalist Thomas Rietzschel über die Nichtskönner in Politik, Gesellschaft und Medien
Ansgar Lange

Was haben ein Berg am Lago Maggiore, moderne Banker und Parteipolitiker sowie die Herren Bohlen und Gottschalk gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht viel. Doch sie alle eint, was der ehemalige FAZ-Kulturkorrespondent Thomas Rietzschel unter dem griffigen Titel „Die Stunde der Dilettanten“ zusammengefaßt hat. Nichtskönner und Blender übernehmen die Macht – in der Politik, in der Wirtschaft und in den Medien. Im Gegensatz zu Fachleuten haben sie einen Vorteil, der bei der eigenen Karriere nützlich ist: Dilettanten kennen keine Selbst- und sonstigen Zweifel. Sie sind Macher und inszenieren sich auf irgendwelchen Gipfeln – seien es Bildungs-, Wirtschafts-, Kinder-, Renten- oder auch Benzingipfel. Eigene Leistung ist unwichtig, es kommt nur auf den schönen Schein an.

Rietzschel beginnt seine literarische Reise mit der Darstellung des Monte Verità am Lago Maggiore, einer Stätte, wo der Dilettantismus sozusagen entdeckt wurde und Rohköstler, Anarchisten, Naturisten, Esoteriker und andere Lebenskünstler vor über hundert Jahren ihr Unwesen trieben. Für sie galt, was den Dilettanten auch in heutigen Zeiten ausmacht: „Wo das Wollen mehr gelten sollte als das Können, wurde die Beherrschung der Sache nebensächlich.“

Doch auch in Berlin tummeln sich die Dilettanten. Namentlich erwähnt werden zu Guttenberg, Rösler und Westerwelle. Dabei leisten sich unsere Politiker laut Rietzschel eine „Rundumversorgung, die die Legende des im Vergleich mit der Industrie unterbezahlten Politikers ad absurdum führt.“ Sie könnten also Leistung bringen und sich auf Sachverstand und nicht nur auf Populismus stützen. Tatsächlich erhalten die Bundestagsabgeordneten allein an direkten Zuwendungen etwa 18.000 Euro mehr pro Jahr als Manager mit vergleichbarer Qualifikation in der Wirtschaft.

Dies führt zu einer monarchischen Selbstgefälligkeit der politischen Klasse, die ohne Folgen bleibt: „Was geschähe mit einem Vorstandsvorsitzenden, der einen seiner Mitarbeiter öffentlich so demütigen würde wie der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble seinen Pressesprecher?“ fragt der Autor. Sanktionen muß Schäuble nicht befürchten, da er seine Rolle gefunden hat – unabhängig von der fachlichen Qualifikation, denn eine Steuerreform oder auch nur Steuervereinfachung steht immer noch aus: „Egal, in welchem Ministerium er sich gerade aufhalten mag, immer überzeugt er als verschlagener Mephisto.“

Ob Rietzschels Behauptung zutrifft, daß sich der politische Ehrgeiz früher noch nicht mit dem Amt begnügt hätte, mag dahingestellt bleiben. Zum Niveauverlust der Politik hat aber sicher die Kumpanei zwischen Politik und Öffentlichkeit beigetragen – nach Ansicht des Autors ein „Phänomen der Berliner Republik“. Folge dieses Einheitsbreis ist das Glaubensbekenntnis des Populismus, dem sich kaum ein Politiker, der gewählt werden will, widersetzen kann. Jeder politisch Handelnde wisse, daß er verloren wäre, würde er sich nicht für soziale Gerechtigkeit, für gleiche Bildungschancen, den Umweltschutz und seit neuestem für die Energiewende einsetzen. „Und da kann es ihm nur nützen, wenn er von der jeweiligen Sache möglichst wenig versteht, keinen Gedanken daran verschwenden muß, daß erzwungene Umverteilung der Leistungsgesellschaft das Rückgrat bricht und somit den Wohlstand aller gefährdet, daß Bildungschancen wahrgenommen werden müssen und sich nicht per Bezugsschein verteilen lassen, daß alternative Energiequellen nicht ausreichen werden, den Strombedarf des Landes zu decken“, so der kulturkritische Befund des Autors. Überspitzt könnte man sagen: Als Politiker muß man nur nach mehr Kita-Plätzen schreien und schon hat man die Moral und die Sympathien auf seiner Seite.

Einige böse Worte fallen auch über Angela Merkel: „Bei der FDJ war sie Sekretärin für Agitprop und Propaganda“. An diese unseligen Zeiten fühlte sich Rietzschel erinnert, als 2010 die Debatte über die Thesen von Thilo Sarrazin begann: „Wie in den Zeiten, als das Politbüro der SED bestimmte, was den Bürgern der DDR frommte und was nicht, überschlugen sich die Politiker und mit ihnen die Wächter des Zeitgeistes in den Medien bei der Verurteilung eines Autors, der es gewagt hatte, Probleme anzusprechen, denen man lieber aus dem Weg ging“.

Unterhaltsam widmet sich Rietzschel auch anderen Tummelplätzen des Dilettantismus. Ob es nun um die Inkompetenz von Bankern geht, die die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise mit heraufbeschworen haben, die Stümperei in der Bildungspolitik, die ein Milliardengrab bleibt, weil soziale Nivellierung wichtiger geworden ist als der Leistungsgedanke, oder um die Bohlens und Gottschalks im Fernsehen: Rietzschels Beobachtungen treffen meist ins Schwarze. Für die Zukunft bedeutet dies nichts Gutes. Denn längst hat die infantile Spaßgesellschaft nicht nur den Boulevard, sondern auch die Chefetagen unserer Wirtschafts- und Medienunternehmen sowie die Parteizentralen erreicht.

Thomas Rietzschel: Die Stunde der Dilettanten. Wie wir uns verschaukeln lassen. Zsolnay Verlag, Wien 2012, gebunden, 252 Seiten, 17,90 Euro

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