© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/12 10. August 2012

Touristen statt Volkspolizisten
Mauerbau: Eine Ausstellung im Berliner Tränenpalast erinnert an die Teilung der Hauptstadt
Henning Hoffgaard

Auf dem Tisch liegt ein Stapel Stasi-Akten. Die meisten Besucher der ehemaligen Grenzübergangsstelle am Bahnhof Friedrichstraße machen sich nicht die Mühe, die eingeschweißten Papiere zu lesen. Christina Seibel schon. Sie ist nicht zum ersten Mal hier. Vor fast 40 Jahren stand die pensionierte Lehrerin mit ihrer aufgeregten Kölner Schulklasse vor einer Gruppe streng blickender DDR-Volkspolizisten. Nach einer recht oberflächlichen Überprüfung kommen alle Kinder durch die Kontrollen. Nur Seibel nicht.

In ihrem Paß steht als Geburtsort „Eisenach“. Die Grenzer werden stutzig. Eisenach? Das liegt doch in der DDR! Die Seibels haben sich vor dem Bau der Mauer in den Westen abgesetzt. Jetzt steht die Lehrerin am Grenzübergang und muß eine Menge unangenehmer Fragen über sich ergehen lassen. Wie lange sie bereits Lehrerin sei, welchem Zweck der Ausflug diene, ob sie Mitglied in einer Partei sei. Das Ganze zieht sich hin. Die Minuten verstreichen, noch Jahre später kommen sie ihr wie Stunden vor. Schließlich darf auch Seibel über die Grenze. Für viele ist im vom Volksmund als Tränenpalast bezeichneten Grenzübergang Schluß. Endstation DDR. Auch die S-Bahn endet hier. 23 Jahre nach dem Mauerfall sind die DDR-Grenztruppen Geschichte. Nur der Tränenpalast steht noch immer im Zentrum der Hauptstadt. Die engen Gänge in der Abfertigungshalle sind einem Museum über die Teilung Berlins gewichen. Statt kontrollierender Volkspolizisten flanieren nun Touristen und Berlin-Besucher durch das Gebäude.

Wer sich für das Grenzregime und die Auswirkungen der Teilung informieren will, ist in der im vergangenen Jahr eröffneten Ausstellung „Grenzerfahrungen“ (JF 39/11) im gründlich restaurierten Tränenpalast genau richtig. Dutzende Plakate, Fotos und Originaldokumente hängen an den Wänden. „Berlin – Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik“ steht auf einem. In einem kleinen Fernsehraum läuft die DDR-Wochenschau. „Die Zeit der Geduld ist vorbei“, sagt eine strenge Stimme. Es ist der 13. August 1961. Untermalt mit bombastischer Musik werden Bilder von aufgerissenen Straßen und Stacheldraht gezeigt. „Die Arbeiterklasse ist nicht mehr wehrlos“, donnert es aus dem Lautsprecher. Eine Zuhörerin schüttelt den Kopf. „Von wegen Arbeiterklasse.“ Während die DDR-Propaganda von einem verhinderten Krieg spricht, versucht ein Vater seinen beiden kleinen Töchtern die Hintergründe zu erklären. So recht verstehen sie es noch nicht. Aber das ist in diesem Augenblick wohl auch nicht so wichtig.

Die engen Kontrollräume und die Paßausgabe sind originalgetreu nachgebaut. In kleinen Einspielfilmen schildern Grenzsoldaten ihre letzten Arbeitstage. „Die Mauer sollte hundert Jahre stehen“, meint einer. „Ich dachte, ich hätte einen sicheren Beruf“, sagt ein anderer. Der Mauerfall als soziale Ungerechtigkeit. Oben steht im besten Bürokratendeutsch: „Grenzübergangsstelle – Betreten nur mit gültigen Grenzübertrittsdokumenten gestattet.“

Christina Seibel schaut sich um: „Eine gute Ausstellung.“ Das sollte doch eigentlich Pflichttermin für jede Schulklasse sein, sagt sie. Ist es aber nicht und das, obwohl sie kostenlos ist. Schon als sie Ende der neunziger Jahre den Schuldienst verlassen hat, sei dem Thema zuwenig Zeit gewidmet worden. „Und heute müssen die in Politik ja noch ein Vierteljahr Islam machen“, meint Seibel kopfschüttelnd. Von der alltäglichen Einschüchterung und der Denunziation durch Stasi-Spitzel wüßten viele Jugendliche kaum noch etwas. Einer Freundin von ihr war Ende der sechziger Jahre, wenige Tage nachdem sie einem Bekannten erzählt hatte, sie wolle das Land verlassen, gekündigt worden. Die folgende Flucht über die Grenze zwischen Ungarn und Österreich scheiterte. Es folgten zwei Jahre Gefängnis im berüchtigten DDR-Knast in Bautzen. Schließlich wird sie von der Bundesrepublik freigekauft. Seibel überlegt kurz. „Wir dachten nach ihrer Haftentlassung eine Zeitlang, sie wäre Stasi-Agentin. Das mit dem Freikaufen wußten wir ja alles nicht.“ Unmittelbar nach dem Mauerfall zieht es Seibel zurück nach Thüringen. Schnell knüpft sie Kontakte mit den früheren Jugendfreunden und organisiert Klassentreffen. Ob die Einheit gelungen sei? Ja, sagt sie, ohne zu zögern. Lediglich, daß viele Westdeutsche bisher noch nicht in Mitteldeutschland zu Besuch waren, sei ärgerlich. Zusammen mit ihrem Mann verläßt sie zufrieden den Tränenpalast. Im Hintergrund rauschen die S-Bahnzüge durch den Bahnhof Friedrichstraße. Keine Endstation mehr, nur noch Zwischenhalt.

 

Museum „Tränenpalast“

Die Ausstellung „Grenzerfahrungen“ im Berliner „Tränenpalast“ (Reichstagufer 17, 10117 Berlin) ist Dienstag bis Freitag von 9 bis 19 Uhr, sowie Samstag, Sonntag und freitags von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist frei.
www.hdg.de/berlin/traenenpalast-am-bahnhof-friedrichstr

Foto: Ausstellungsstücke im Tränenpalast: „Betreten nur mit gültigen Grenzübertrittsdokumenten gestattet“

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