© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/12 10. August 2012

Im Kampf mit der Wirklichkeit
Volker Kempf über Leben und Werk des großen bundesdeutschen Sozialwissenschaftlers Helmut Schelsky
Karlheinz Weissmann

Wirklichkeitsverweigerung“ war ohne Zweifel ein Schlüsselbegriff im Denken Helmut Schelskys, mindestens wenn man den späten, den „Anti-Soziologen“ in den Blick nimmt. Wahrscheinlich erklärt sich daraus auch etwas von dem Bedeutungsverlust seiner Theorien, dem In-Vergessen-Geraten seiner Person wie seiner Bücher, die teilweise Bestsellerqualität hatten. Schon angesichts dieses Befunds ist es verdienstvoll, daß Volker Kempf mit seinem Buch etwas dafür tut, Leben und Werk eines bedeutenden deutschen Sozialwissenschaftlers wieder ins Bewußtsein zu heben.

Der Aufbau des Buches folgt einem biographischen Raster, legt besonderen Wert auf die Herkunft Schelskys, der aus einfachen Verhältnissen kam und nachhaltig durch das Erlebnis der Jugendbewegung beeinflußt wurde. Weiter geht es um die intellektuelle Prägung in der „Leipziger Schule“ der Soziologie, die in den 1930er Jahren vor allem durch Hans Freyer, Arnold Gehlen und den unbekannteren, aber für Schelsky besonders wichtigen Gotthard Günther bestimmt wurde. Hier lernte Schelsky, Soziologie als „Wirklichkeitswissenschaft“ zu begreifen, um einen Begriff Freyers zu verwenden, was bedeutete, daß er auf Distanz zu seinen stärker philosophisch – an Fichte orientierten – Anfängen ging und parallel dazu auch Abstand vom Nationalsozialismus nahm.

Kempf hat sicher richtig gesehen, daß Schelskys Engagement nach der Machtübernahme vor allem mit einem überschießenden Rest an Jugendbewegtheit einerseits, mit dem Aktivismus des akademischen Nachwuchses in der großen Krise andererseits zu tun hatte, weniger mit einer ideologischen Ausrichtung an der Partei oder der Person Hitlers. Jedenfalls konzentrierte sich Schelsky bis zum Kriegsbeginn auf die Fortsetzung seiner wissenschaftlichen Laufbahn, schloß Dissertation und Habilitation (zur Auseinandersetzung mit Carl Schmitts Deutung des „Leviathan“) ab, ging als Assistent Gehlens nach Königsberg und erhielt 1943 einen Ruf an die „Reichsuniversität“ Straßburg, konnte dem aber als Soldat nicht folgen.

Schelsky kehrte bereits kurz vor dem Zusammenbruch als Verwundeter zurück und machte sich trotz der widrigen Umstände mit erstaunlicher Zielstrebigkeit nicht nur an die Fortsetzung seiner Laufbahn, sondern auch daran, Verbindungen zu allen möglichen Institutionen zu knüpfen, die gerade neu organisiert wurden oder den Kollaps überstanden hatten. Seine Auftraggeber waren neben dem Roten Kreuz – Schelsky gründete dessen „Suchdienst“ – auch die Kirchen und dann verschiedene politische Einrichtungen der jungen Bundesrepublik. 1949 erhielt er einen Lehrstuhl für Soziologie an der gewerkschaftsnahen Akademie für Gemeinwirtschaft, wechselte 1953 an die Universität Hamburg und 1960 an die Universität Münster.

In dieser Phase verschaffte er sich in der Öffentlichkeit einen Ruf als Wissenschaftler, der auch für ein breiteres Publikum zu schreiben wußte. Neben seiner „Soziologie der Sexualität“ (1955) war es vor allem der Band „Die skeptische Generation“ (1957), der in großer Auflage verbreitet war und dessen Titel Schlagwortcharakter annahm. Skepsis oder wenigstens eine ausgeprägte Nüchternheit bestimmte jetzt auch Schelskys eigene Denkansätze, und sein Einfluß in den 1950er und 1960er Jahren resultierte daraus, daß er einer verbreiteten Stimmungslage entgegenkam. Dabei war ihm die deutliche Reserve seiner Lehrer Freyer und Gehlen gegenüber der Bundesrepublik genauso fremd wie die Repolitisierung in den Reihen der jüngeren Soziologen, die allmählich spürbarer wurde. Ohne Zweifel gehörte Schelsky zu den reformbereiten Ordinarien – das war vor allem an seiner entscheidenden Funktion beim Aufbau der neuen Universität Bielefeld festzustellen –, aber der gegen ihn gerichtete Vorwurf der Neuen Linken, „Technokrat“ zu sein, entbehrte auch nicht einer gewissen Berechtigung.

Schelsky hatte zwar ursprünglich nur rein sachlich festgestellt, daß der „technische Staat“ der Demokratie die Substanz entziehe, jedenfalls die Sachzwänge keinen Platz mehr für romantische Vorstellungen von Volkssouveränität ließen. Aber unter dem wachsenden Druck seiner Gegner aus den Reihen der APO und ihrer professoralen Unterstützer spitzte er seine Auffassung dahingehend zu, daß diejenigen, die da im Namen der „Demokratisierung“ auftraten, nichts anderes täten, als eine neue Heilslehre zu verbreiten, die der Etablierung und Ausübung ihrer „Priesterherrschaft“ diene. Die „Kaste der Sinnvermittler“, so Schelsky, glaube zwar nicht im Ernst an ihre eigenen Lehren, nutze diese aber, um ihre eigene Funktionslosigkeit im modernen rationalen System zu kaschieren und sich ideologische Macht anzueignen.

Das Buch „Die Arbeit tun die anderen“ (1975), dem diese Analyse zugrunde lag, war das wirkmächtigste Schelskys, und man könnte gegen die Darstellung von Volker Kempf einwenden, daß er die Heftigkeit des Konflikts, in dessen Zentrum Schelsky am Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre stand, nicht deutlich genug herausarbeitet. Es ist ihm aber unbedingt zuzustimmen, daß hier die Ursache für eine zunehmende Verbitterung und einen Rückzug aus der eigenen Disziplin stand, auf deren Realitätsblindheit Schelsky als Gegenaufklärer reagierte, der eben Dinge wußte und Zusammenhänge verstand, die zu wissen und zu verstehen auch heute noch lohnt, während sich das Gerede seiner Kontrahenten als das erwiesen hat, was es ist: Wirklichkeitsverweigerung.

Volker Kempf: Wider die Wirklichkeitsverweigerung. Helmut Schelsky. Leben, Werk, Aktualität. Olzog Verlag, München 2012, gebunden, 224 Seiten, 29,90 Euro

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