© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/12 17. August 2012

Dem Vergessen entreißen
Geschichtspolitik: Ein neues Forschungsprojekt von Bund und Ländern soll die Biographien der Opfer der deutschen Teilung erforschen
Ekkehard Schultz

Die Bundesregierung sowie die Länder Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Hessen werden bis Ende 2015 ein Forschungsprojekt fördern, in dem die Schicksale der Opfer an der ehemaligen innerdeutschen Grenze aufgearbeitet werden. Mit Hilfe dieses Vorhabens sollen alle Todesfälle zwischen 1949 und 1989 untersucht und Biographien der Opfer erstellt werden – allerdings mit Ausnahme derjenigen, die an der Seegrenze starben. Geleitet wird das Projekt nach Angaben des Staatsministers für Kultur und Medien, Bernd Neumann (CDU), von Klaus Schroeder vom Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin (FU). 

Grundsätzlich ist auch mehr als zwanzig Jahre nach dem Ende des SED-Regimes das Schicksal dieser Opfer noch nicht endgültig erforscht. Zwar liegen zahlreiche Vorarbeiten vor, doch die bislang ermittelten und veröffentlichten Zahlen weichen zum Teil deutlich voneinander ab. So geht das Berliner Museum am Checkpoint Charlie von 1.676 Fällen an der innerdeutschen Grenze zwischen 1945 und 1989 aus. Zum 51. Jahrestag des Mauerbaus am Montag veröffentlichte das Museum mit einer doppelseitigen Zeitungsanzeige die Namen und Daten der Opfer. Die Zentrale Erfassungsstelle Salzgitter hatte 1991 Hinweise auf 872 Getötete. Andere Studien beziffern die Gesamtzahl dieser Opfer dagegen auf rund 500. Und die bis 2000 in Berlin aktive Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität kam sogar nur auf 421 sogenannte Verdachtsfälle. Um so wichtiger ist es, diese Forschungslücke nunmehr zu schließen und zu belastbaren Angaben zu gelangen.

Zu diesem Zweck werden die Wissenschaftler von der FU Archive in Ost- und Westdeutschland auswerten, darunter das Schriftgut mehrerer Landesarchive, des Bundesarchivs, der Stasiunterlagenbehörde, der Zentralen Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen für DDR-Unrecht in Salzgitter sowie des Freiburger Militärarchivs. Ein besonderer Schwerpunkt wird daneben auf Befragungen von Verwandten und Freunden der Todesopfer liegen. Auf diese Weise sollen die in den DDR-Überlieferungen häufig anzutreffenden diffamierenden Darstellungen über die Opfer korrigiert werden.

Das Projekt soll die Erstellung eines Totenbuches mit den Kurzbiographien der Opfer ermöglichen. Als Vorbild dafür dient das Totenbuch 1, in dem die Opfer an der Berliner Mauer verzeichnet sind und das bereits seit 2009 vorliegt. Über das Buch hinaus wird eine ausführliche und insbesondere für die politische Bildung und den Schulunterricht aufbereitete digitale Präsentation erstellt, die die Biographien aller Männer, Frauen und Kinder im Internet enthält, die Opfer des DDR-Grenzregimes an der knapp 1.400 Kilometer langen innerdeutschen Demarkationslinie wurden.

Das Ziel dieses neuen Vorhabens ist nicht nur, „auf Dauer über die SED-Diktatur aufzuklären“, sondern ebenso auch „dem Vergessen und der Verharmlosung entgegenzuwirken“, so Neumann. Darüber hinaus möchte die schwarz-gelbe Bundesregierung damit einen Beitrag dazu leisten, daß „vor allem Jugendliche lernen, daß extremistische Ideologien von links wie von rechts – wenn sie sich verbreiten – nur zu Unfreiheit und Unterdrückung führen“.

Die bisherigen Reaktionen aus der Politik nach der Bekanntgabe des Projektstarts waren durchweg positiv. Der Berichterstatter der FDP-Bundestagsfraktion für die Aufarbeitung des DDR-Unrechts, Patrick Kurth, erklärte, daß mit dem Projekt „endlich ein noch wenig erforschter, aber extrem wichtiger Aspekt der deutsch-deutschen Teilungsgeschichte aufgeklärt“ werde. Zwar wisse man „dank unermüdlicher Aufarbeitung“ heute sehr genau darüber Bescheid, „wie menschenverachtend das DDR-Regime an der Berliner Mauer gewirkt hat und wieviel Opfer dort zu beklagen sind“. Hingegen sei das, „was an der knapp 1.400 Kilometer langen, nicht minder bewachten, innerdeutschen Grenze geschah, nur bruchstückhaft erforscht“, sagte Kurth. Der Chef der hessischen Staatskanzlei, Axel Wintermeyer (CDU), erinnerte daran, daß diese Aufarbeitung „keine ostdeutsche Aufgabe, sondern eine gesamtdeutsche Verpflichtung“ sei. Dieses Bewußtsein manifestiere sich nicht zuletzt in der finanziellen Unterstützung des Vorhabens durch sein Bundesland. 

Der Kultusminister von Sachsen-Anhalt, Stephan Dorgerloh (SPD), lobte das Projekt vor allem unter dem Gesichtspunkt, daß der gesellschaftliche Blick „auf die Grenztoten bislang sehr stark auf die Opfer an der Berliner Mauer“ gerichtet wäre. Es sei daher wichtig, sich vor Augen zu halten, daß „schon elf Jahre vor dem Bau der Berliner Mauer die deutsch-deutsche Grenze hermetisch abgeriegelt wurde“, sagte Dorgerloh. 

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