© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/12 17. August 2012

Unterschätzter Garant unseres Wohlstandes
Agrarpolitik: Die Land- und Ernährungswirtschaft könnte künftig eine entscheidende Rolle für die Stabilität unserer Wirtschaft spielen
Christian Baumann

Daß der Agrarsektor neben der Autoindustrie zu den bedeutendsten Branchen in Deutschland zählt, ist vielen nicht bewußt. Laut einer Studie der Fachhochschule Südwestfalen waren gut zwölf Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland – derzeit sind es insgesamt über 41 Millionen – in diesem Wirtschaftsbereich beschäftigt. In dem Untersuchungszeitraum konnte ein Produktionswert von fast 390 Milliarden Euro ermittelt werden.

Alle der Agrarerzeugung unmittelbar vorgelagerten Bereiche wie etwa die Futtermittel-, Pflanzenschutz- oder Landtechnikindustrie, die nachgelagerten Stufen der Lebensmittelerzeugung wie Molkereien, Fleischereien oder Bäckereien, ferner der Handel sowie alle damit verbundenen Formen der Dienstleistung finden sich in diesem mächtigen, aber unterschätzten Wirtschaftszweig.

Allein die deutsche Ernährungsindustrie, der 550.000 Beschäftigte in fast 6.000 oft mittelständischen Unternehmen zuzurechnen sind, konnte zuletzt einen Jahresumsatz von etwa 150 Milliarden Euro bei konstantem jährlichem Wachstum verbuchen. Insbesondere hat sich das Auslandsgeschäft in der vergangenen Dekade verdoppelt, so daß nahezu 30 Prozent am Umsatz dem Export zufallen. Exportschlager sind in erster Linie Süßwaren sowie Milch bzw. Milcherzeugnisse – darunter vor allem Käse – sowie Fleisch und Fleischwaren, die dank hoher Qualität und Sicherheit über eine souveräne Konkurrenzfähigkeit auf den Auslandsmärkten verfügen. Es sollte deshalb durchaus beunruhigen, wenn diese bislang erfolgsverwöhnte Branche nun über Absatzrückgänge klagt. Im April dieses Jahres meldete die Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE) sinkende Absätze von 4,6 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum, wobei der Umsatz besonders im Inland und im Euro-Raum spürbare Einbußen verzeichnete. Nur auf den Export bezogen verfehlte der Gesamterlös das Vorjahresniveau um 6,7 Prozent, was unterm Strich zur Folge hatte, daß die Lebensmittelhersteller – der viertgrößte Industriezweig in Deutschland – ihre Produktion bereits um knapp fünf Prozent drosselten.

Der BVE-Report vom Juli lieferte zwar optimistischere Zahlen, doch die „Konjunkturrisiken aufgrund der Euro-Krise sind nach wie vor allgegenwärtig“, schreiben die Marktexperten der BVE. Wenn dem so ist, könnte der seit Juni zu verzeichnende Preisanstieg bei Lebensmitteln, der mit 3,5 Prozent die allgemeine Inflationsrate von 1,7 Prozent entgegen dem langjährigen Trend deutlich übertroffen hat, für einen weiteren Rückgang im Warenabsatz verantwortlich gemacht werden. So wurde ein Preissprung gegenüber dem Vorjahr beispielsweise für Obst von 5,3 Prozent, für Gemüse von 4,6 und für Fisch und Fischwaren von 4,4 Prozent beobachtet. Alleine für Fleisch und Fleischwaren lag dieser bei fast sechs Prozent.

Besonders für die Warengruppe Fleisch sagen Marktanalysten ein forciertes Kaufdesinteresse nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten EU voraus. Demnach wird der EU-Bürger in Zeiten harter Sparauflagen den Gürtel enger schnallen und sich insbesondere beim Verzehr von Rind- und Schweinefleisch bis zum nächsten Jahr um durchschnittlich 1,5 Kilogramm einschränken. Nach Schätzungen wird der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch der gängigen Fleischsorten auf knapp 82 Kilo fallen, wodurch der Gesamtkonsum um etwa 500.000 Tonnen auf 41,3 Millionen Tonnen sinken wird.

Noch mehr wird die Fleischerzeugung und damit die Tierhaltung schrumpfen. Ein Trend, der besonders auch in Deutschland schon über Jahrzehnte anhält und sich weiter fortsetzen wird. Wie die aktuelle Bestandserhebung darlegt, schlossen innerhalb eines Jahres fünf Prozent aller Betriebe mit Schweinen und 4,3 Prozent aller Betriebe mit Rindern ihre Tore. In Deutschland werden somit Schweine nur noch auf gut 30.000 und Rinder nur noch auf 163.000 Bauernhöfen gehalten. Zehn Jahre zuvor waren es noch knapp 108.000 schweine- und 208.000 rinderhaltende Betriebe.

In konsequenter Fortsetzung wird das entsprechende Warenangebot insbesondere auf dem Rindersektor sinken. Wie die EU-Kommission prognostiziert, wird aufgrund des spürbar reduzierten Angebotes an Rindfleisch und lebenden Tieren in der Gemeinschaft auch das nötige Exportvolumen für Drittländer fehlen. Nach den Erhebungen von Eurostat brachen bereits in den ersten vier Monaten dieses Jahres die Rindfleischlieferungen in die Türkei um über 70 Prozent ein, und auch der Export nach Rußland reduzierte sich um die Hälfte. Dabei wäre nun gerade Rußland aus deutscher Sicht ein willkommener Handelspartner, nicht zuletzt wegen des Beitritts zur Welthandelsorganisation WTO. Durch die damit verbundene Verpflichtung zur Senkung der Importzölle werden deutsche Ausfuhren dorthin merklich an Attraktivität gewinnen.

Unabhängig von der momentanen Finanz- und Euro-Misere ermöglichen die Aktivitäten in der internationalen Handelspolitik im Prinzip positive Prognosen für die Ernährungswirtschaft. Angebahnte bilaterale Handelsabkommen versprechen neues Absatzpotential für landwirtschaftliche Produkte auch aus Deutschland – vorausgesetzt, die landwirtschaftliche Primärerzeugung kann trotz ihres beständigen Rückgangs die erforderliche Rohstoffvielfalt sowohl für den Inlands- als auch für den Auslandsmarkt bereitstellen. Dann kann die Land- und Ernährungswirtschaft in Deutschland weiter markant zur Stabilität der Wirtschaft und damit auch des Wohlstandes beitragen. Das einst medial geprügelte – weil subventionierte – Stiefkind der Nation könnte so zur tragfähigsten Säule der Wirtschaft avancieren.

Foto: Deutsche Fleischverarbeitung: Großer Appetit in Rußland

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