© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/12 17. August 2012

Ein uralt menschliches Gedicht
JF-Serie, Teil II: Richard Wagners Romantik und Erlösungssehnsucht / „Lohengrin“ eröffnet neue Weltsicht
Thomas Bargatzky

Wagners Werk und Leben sind ineinander verwobene Variationen des Weges zum „Kunstwerk der Zukunft“. Dieser Weg ist nicht geradlinig, es gibt Brüche, überraschende Volten und Selbstinterpretationen, in denen Leben und Theorie in Übereinstimmung gebracht werden sollten. So hat Wagner oft seine früheren Werke auf eine Weise umgedeutet, die erst aus einer späteren Warte heraus plausibel war.

Dennoch liegt Leben und Werk eine Folgerichtigkeit zugrunde, eine Logik der Entwicklung der Person und des Denkens des Menschen Richard Wagner, in der nicht nur ein individuelles Künstlerdrama sichtbar wird, sondern in der sich auch der historische Wandel des Übergangs von den geschlossenen kollektiven Institutionen der Agrarwirtschaft mitsamt allen daran geknüpften Rechten und Pflichten in die offene Gesellschaft der freien Konkurrenz spiegelt. Erst vor diesem Hintergrund ist ja Wagners „Kommunismus“ denkbar.

In Wagners Leben, Schriften und Musikdramen findet die Herausbildung dieser Moderne ihren Niederschlag, wird reflektiert und kommentiert und schafft sich zuletzt, in „Parsifal“, die hochaktuelle Utopie ihres eigenen postmodernen Endes. Wagners Werk ist eine Signatur der Gegenwart, sein Schöpfer unser Zeitgenosse.

Das Individuum nimmt im Denken der westlichen Moderne eine Zentralstellung ein. Nirgendwo außerhalb des christlich geprägten Kulturkreises wird es als Monade aufgefaßt, als Ebenbild Gottes einzigartig und unersetzlich. In der Romantik gewann die Figur des weltverlassenen und die Welt verlassenden Vereinzelt-Einzelnen neues Interesse, selbstverständlich auch als Ausdruck der Resignation angesichts der politischen Verhältnisse. Insbesondere in Deutschland feierte das von den Nächsten und der Gemeinschaft abgeschnittene, der Welt gleichsam abhanden gekommene Individuum, wie es in Friedrich Rückerts Gedicht heißt, sein melancholisches Debüt als Zentrum der Kulturschöpfungen.

Schon in „Holländer“ und „Tannhäuser“ spielt Wagner die Themen Odyssee und Erlösung durch. Der Grundzug des Mythos vom Fliegenden Holländer, so schreibt er in „Eine Mitteilung an meine Freunde“ (1851), fand in Gestalt des herumirrenden Odysseus einen frühen Ausdruck. So tritt uns der Vereinzelt-Einzelne auch in der 1841 vollendeten „romantischen Oper“ „Der Fliegende Holländer“ entgegen. „Erlösung“ findet der moderne Ahasver mitsamt seiner kongenialen, ihrem gesellschaftlichen Umfeld gleichfalls entfremdeten Partnerin Senta in diesem Drama noch in einem Jenseits, dessen christlicher Charakter indessen nicht allzu deutlich ist.

Im „Tannhäuser“, der 1845 vollendeten „großen romantischen Oper“, kehrt der Abweichler jedoch wieder in den Schoß der Kirche und der Feudalordnung zurück und findet seine christlich-himmlische Erlösung. Im Rahmen des musikdramatischen Gesamtwerkes erscheint „Tannhäuser“ wie eine Regression, denn bereits im folgenden Musikdrama „Lohengrin“ ereignet sich ein thematischer Qualitätssprung, geschieht etwas Revolutionäres. Auch dieses 1848 vollendete Werk firmiert noch als „Romantische Oper“, aber unter den Chiffren der Romantik verbirgt sich ein Drama der Moderne. „Lohengrin“ öffnet den Zugang zu Gedankenwelten, denen keine der Gestalten in Wagners folgenden Werken mehr entkommen kann.

Daß es sich bei alldem um etwas Politisches handeln muß, läßt die zeitliche Nähe von Wagners Schriften zu „Lohengrin“ erahnen, die Titel tragen wie „Die Revolution“ oder „Der Mensch und die bestehende Gesellschaft“, beide aus dem Jahr 1849, wie auch die bereits im ersten Teil dieses Aufsatzes (JF 33/12)angeführten „sozialistischen“ Schriften „Das Kunstwerk der Zukunft“ und „Das Künstlertum der Zukunft“.

Zunächst fühlte sich Wagner nicht zur Lohengrin-Sage hingezogen. Das änderte sich aber schon bald, denn in in seiner „Mitteilung an meine Freunde“ (1851) schreibt er, daß er im Mythos des Schwanenritters „kein eben nur der christlichen Anschauung entwachsenes, sondern ein uralt menschliches Gedicht“ erkannte. Die Kategorie „christlich-romantisch“ sei nur eine Äußerlichkeit, denn im Grunde bringe der Mythos die Sehnsucht des Menschen nach dem Gotte und Gottes nach den Menschen zum Ausdruck. Diesen Kern mythischer Weltsicht hätten alle Völker durch die Zeiten in ihren Mythen bewahrt.

Im Mythos von Zeus und Semele erkennt Wagner die Grundgestalt der Lohengrin-Erzählung: Der Gott liebt ein menschliches Mädchen und nähert sich ihr als Mann in menschlicher Gestalt, aber Gott und Mensch können nicht von gleich auf gleich miteinander umgehen, der Mensch erträgt die Unmittelbarkeit der Gottheit nicht. Als Zeus sich der Königstochter in seiner wahren Gestalt zeigt, verglüht sie.

Wie jeder genuine Mythos ist auch der Kunstmythos vieldeutig, daher kann Shaws „sozialistische“ Erklärung des „Ring“ ergänzend und gleichberechtigt neben Robert Doningtons psychologische und Lynn Snooks symbolgeschichtliche Deutungen treten. „Lohengrin“ ist oft als Drama des modernen Künstlers verstanden worden. Diese Deutung ist nicht falsch, greift aber zu kurz. „Lohengrin“ ist auch eine politische Dichtung, ein Ausdruck der Ära zwischen den beiden Revolutionen von 1830 und 1848. Die Anspielung auf den Sieg König Heinrichs I. über die Ungarn an der Unstrut im Jahr 933 wurde von Wagners Zeitgenossen als Appell zur deutschen Einigung und zum Widerstand gegen das Zarenreich als Hauptstütze der restaurativen Bestrebungen der deutschen Fürsten verstanden.

Um aber die politische Aussage des „Lohengrin“ noch besser zu verstehen, müssen wir uns der Gestalt der Ortrud zuwenden. Sie ist die „politische Frau“ (Hans Mayer), die mächtige Gegenspielerin des Schwanenritters. Elsa ist für Wagner nur der „andere Teil“ von Lohengrin, nicht, wie Ortrud, der ihm fern liegende, absolute Gegensatz. So wie die Geschichte von Zeus und Semele der Beziehung von Elsa und Lohengrin mythische Tiefe verleiht, so gestaltet Wagner auch das Verhältnis Lohengrins und Ortruds zueinander durch ein mythisches Motiv: das Motiv des Drachenkampfes. Es bleibt zwar in seinen Reflexionen über „Lohengrin“ ungenannt, im „Ring des Nibelungen“ greift er es aber ganz bewußt in der Gestalt des Fafner auf. Erst wenn man dieses Motiv zur Deutung des „Lohengrin“ heranzieht, wird deutlich, welch neue Weltsicht Wagner sich in diesem Musikdrama erschließt.

 

Prof. Dr. Thomas Bargatzky lehrte bis 2011 Ethnologie an der Universität Bayreuth. Den dritten und letzten Teil der Wagner-Serie lesen Sie nächste  Woche in der JF-Ausgabe 35/12.

Foto: Ortrud kniet vor Elsa, Gemälde (Ausschnitt) um 1876 von Theodor Pixis (1831–1907): Gegenspielerin

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