© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/12 17. August 2012

Mißtrauen in die Phantasie
Wagner-Festspiele: Über die Wandlungsfähigkeit einer Institution / Licht und Schatten bei „Parsifal“ und „Der fliegende Holländer“
Werner Dremel

Wer seit über dreißig Jahren ohne Unterbrechung zu den Bayreuther Wagner-Festspielen fährt, machte in der letzten Dekade eine beklemmende Erfahrung: Hinter dem immergleichen kulissenhaften Erscheinungsbild – das Konzerthaus auf dem Grünen Hügel, in der Stadt unten die Villa Wahnfried, drum herum das Festspieltreiben, die Imbißtische und Steigenbergers Menu in den Pausen, und die Fanfaren, die zum 2. oder 3. Akt rufen – hat eine Wandlung des Festspielgeschehens selbst stattgefunden, die nicht graduell, sondern essentiell ist – eine Zäsur, geradezu ein Kulturbruch.

Seit etwa zehn Jahren scheinen die Inszenierungen Wagner absichtlich lächerlich machen zu wollen; jedenfalls drängt sich dieser Eindruck angesichts so mancher possenhaften Regie-Einfälle förmlich auf. Dabei ist gerade Bayreuth nicht irgendeine Bühne. Nirgendwo sonst in der musikalischen Welt ist der genius loci so spürbar, ist Titanentum so manifest wie an diesem Platz, als schwebte der Geist Richard Wagners über den Hügel. Man kann sein Werk nicht kleinreden und kleininszenieren. Die Macht der Handlungen und der Musik zerreißen einfach das Narrengewand, das man ihm mit aller Gewalt übergestülpt hat.

Zuallererst muß die Zerstörung, die Demontage des Mythos erfolgen. Mythen stehen am Ursprung der Welt und aller Kulturen und Völker, sie reichen weit vor logos, vor ratio zurück, und sie sind in den meisten Werken Wagners die zentrale Komponente, der rote Faden, das durchgehende Prinzip. Den Mythos beseitigen heißt dem Werk per Inszenierung die Seele nehmen. Der Mythos ist identitätsstiftend, und wer ihn ignoriert, ignoriert die Identitäten – sollte man das als kulturellen Beitrag zur Globalisierung, zur One World vielleicht sogar wollen? Wagner als Jedermann, überall möglich, nach Belieben?

Im Parsifal geht es um den Mythos vom Opfer des einen, der die Last der andern auf sich nimmt: eben die Parallele zum Erlösungsgeschehen des Christentums. Stefan Herheims Bayreuther Inszenierung ist ernsthaft gemeint, schlüssig, ästhetisch ansprechend. Sein Gesamtkonzept ist auf das Gesamtkunstwerk abgestellt: Es verbindet geschickt die Geschichte Parsifals und seiner Gestalten mit der Geschichte Deutschlands seit der Reichsgründung und mit der Geschichte der Familie Wagner. Ohne jede Oberlehrerhaftigkeit mit erhobenem Zeigefinger wird uns in ästhetischen Bildern eindrucksvoll diese Dreifachhandlung – Parsifal, Deutschland, die Wagners – meist vor Wahnfried, Wagners Heim, vor Augen geführt.

Das beginnt mit einer tiefen Vision während des Vorspiels: Auf einem großen Bett in Wahnfried stirbt Herzeleide, Parsifals Mutter – oder Cosima Wagner? –, um wenige Minuten später als das ewige Weib Kundry wiederaufzustehen, das den noch kindlichen Parsifal, der nur widerwillig ans Sterbebett seiner Mutter kam, umschlingt. Die Gralsritter, oder besser die Gralsgesellschaft mit Damen, durchläuft die Geschichte: großbürgerliche Gründerzeit, die Herren mit Zylinder, die Damen mit großen Hüten, Korpsstudenten, feldgraue Soldaten, die sich herzlich verabschieden, bevor sie in den Tod ziehen, SS, die unter blutroten Hakenkreuzfahnen roboterhaft aufmarschiert – endlich einmal integraler Bestandteil der Inszenierung und nicht an den Haaren herbeigezogen –, eine Kolonne von Trümmerfrauen vor Bombenruinen nach dem Zusammenbruch, schließlich die Parlamentarier des Bundestags, als widerwärtig zeternde Wichte. Somit wird die erweiterte Gralsgesellschaft zum Spiegelbild deutscher Geschichte seit dem 19. Jahrhundert und der Geschichte der Wagners.

Was allerdings das Einmauern von Richard Wagners Totenmaske, riesig über die ganze Bühne projiziert, bedeuten soll, ist nicht klar. Will man den Begründer der Festspiele damit wegschließen – oder für immer bewahren? Jeder denke sich seinen Teil.

Die Gralsenthüllung dagegen, als erster Höhepunkt der Handlung, fällt ganz und gar klassisch aus, so klassisch, daß sie an die Erstinszenierung von 1882 erinnert: Paul von Joukowskys Bühnenbild vom Dom in Siena, der rotleuchtende Kelch, der in weiß gehüllte Parsifal. Die Weiheszene an sich wird somit unangetastet gelassen, aber ihre Jenseitigkeit wird ergänzt durch die Diesseitigkeit des Eros: Im großen Bett aus Wahnfried umschlingen sich parallel dazu Parsifal und Kundry, oder Richard und Cosima, oder einfach Mann und Frau ...

Nur weniges stört oder ist nicht überzeugend: die albernen schwarzen Flügel, die fast alle Akteure tragen, Kundry als Marlene Dietrich (warum ausgerechnet sie?), ein seltsam als Transvestit ausstaffierter Klingsor.

Man merkt, daß Herheim Musik und Oper kennt und schätzt, im Gegensatz zu dem einen oder andern „Regisseur“ der in Bayreuth während der letzten Jahre am Werk war. Handlung und Musik, Orchester wie Gesang, liefen synchron und behinderten sich nicht gegenseitig. Die Sänger erbrachten eine gediegene Ensembleleistung. Herausragend: Kwangchul Youn als Gurnemanz; beeindruckend: Susan Maclean als Kundry. Der Choreinsatz unter Eberhard Friedrich war überwältigend, und Philippe Jordan dirigierte feinsinnig und ausgewogen, ohne überzogene Längen, wie es oft in diesem Werk der Fall ist.

Fazit: Eine intellektuelle und ästethische Produktion. Man muß mitdenken, und man hat etwas fürs Auge, opulent bisweilen, und viel Bewegung, aber nie Aktionismus, was dem an sich statuarischen Werk zugute kommt.

Bei vielen Opernproduktionen heutzutage fragt man sich: Warum muß in Bühnenbild und Kostümen unbedingt die Welt von heute – oder auch von morgen und übermorgen – heraufbeschworen werden? Die Aussagen der Textbücher sind in der Regel zeitlos, ob „Don Giovanni“ oder „Tristan und Isolde“, ob „Carmen“ oder „La Traviata“ – warum halten sich die Regisseure nicht daran? Was an Zusatznutzen bringen Anzüge und Krawatten, Motorräder und Fernsehapparate, Kraftwerke und Bahnhofswartesäle? Traut man den Zuschauern nicht mehr die Phantasie zu, daß sie das Geschehen in die Gegenwart übertragen?

Genau das fragt man sich auch beim neuen „Holländer“ (Inszenierung: Jan Philipp Gloger). Der Vorhang öffnet sich, und in voller Bühnenhöhe und -breite alles abdeckend türmt sich da ein riesiges baugerüstartiges Gestell auf. Nur die an einigen Stellen angebrachten laufenden Zahlenuhren weisen auf etwas anderes hin, vielleicht die Börse, jedenfalls auf Kommerz – aber das weiß man erst nach einem Einführungsvortrag oder dem Studium des Programmheftes. Denn darauf käme auch die kühnste Phantasie von selbst nicht, ist doch der Holländer die Apotheose des Mythos von Meer, Sturm und Schiffahrt. Immerhin: Ein verschämter Hinweis darauf wird gegeben. An der Basis des Gerüsts ist offensichtlich Wasser, und darauf sitzen in einem Nußschalen-Kahn Daland und der Steuermann, der wie gewohnt Gewitter und Meer, Sturm und Südwind besingt. Und nicht zu vergessen: Senta reißt bei ihrer Ballade ein großes Spielzeugmodell eines Schiffes in die Höhe. Das war’s dann aber auch.

Für weitere Albernheiten ist gesorgt: Die Spinnstube ist der Verpackungsabteilung eines Tischventilatorenversands gewichen, es könnten genausogut Kaffeemaschinen oder Haartrockner sein; es sei denn, mit den Ventilatoren sollte ein dezenter Hinweis auf die fehlende Klimatisierung im überheißen Festspielhaus gegeben werden. Dann wäre es ein sinniger und sachdienlicher Einfall.

Ansonsten: Kartons überall (der Bühnenbildner scheint eine besondere Beziehung dazu zu haben), in der Fabrikhalle wirken die „Spinnerinnen“, und leben und sterben die Protagonisten Holländer und Senta.

Samuel Youn als Holländer und Adrienne Pieczonka als Senta wären in anderer Umgebung ein eindrucksvolles Paar, mit dem passenden Stimm-Material und hoher Bühnenpräsenz. Der große Choreinsatz der „Matrosen“ und „Spinnerinnen“ ist, wie gewohnt, prächtig, und Christian Thielemann dirigiert einen nuancenreichen „Holländer“, voller Klangfarben und Dynamik.

Von Jahr zu Jahr fällt einem immer mehr der Rat Richard Wagners ein, den dieser einer Bewunderin gab, die sich über eine Inszenierung beklagte: Dann hören Sie eben mehr zu, und schauen weniger hin.

 

Prof. Werner Dremel ist seit etwa dreißig Jahren ständiger freier Musik-, vor allem Festspielkorrespondent für verschiedene Medien. 2011 schrieb er in der JF von den Bayreuther Festspielen über„ Tristan und Isolde“ und „Tannhäuser“ (JF 35/11).

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