© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/12 17. August 2012

Vom Ich zum Wir
Konservative Revolution: Zum 150. Geburtstag des französischen Schriftstellers und nationalen Politikers Maurice Barrès
Alain de Benoist

Maurice Barrès: Namensgeber zahlreicher Straßen und Schulen in ganz Frankreich, laut dem israelischen Historiker Zeev Sternhell ein Vordenker des Faschismus, für Armin Mohler eine Galionsfigur der Konservativen Revolution in Europa, zu Lebzeiten so gefeiert wie kaum ein anderer. Heutzutage wäre es ihm wohl ganz anders ergangen. Selbst im eigenen Land wird seinem 150. Geburtstag wenig Beachtung zuteil – geschweige denn in Deutschland, wo er zudem kaum bekannt ist, da nur wenig von seinem Werk ins Deutsche übersetzt wurde.

Am 19. August 1862 in Charmes in der Ebene der Vogesen zur Welt gekommen, erwies sich Barrès bereits als Gymnasiast in Nancy als schwieriger Zeitgenosse. „Allzu empfindsam und allzu streitlustig“, wie er selber sagte, zog er sich lieber in Einsamkeit zurück, als sich „mit Spielgefährten abzugeben, die er sich nicht ausgesucht hat“.

Lange hielt es ihn nicht in der Provinz – 1883 zog er nach Paris, arbeitete dort an mehreren Literaturzeitschriften mit, gründete ein Jahr später eine eigene Zeitschrift, Les Taches d’encre (deren vier Hefte er praktisch alleine füllte), und schlug eine Laufbahn als Schriftsteller ein. Dreh- und Angelpunkt seines Denkens ist der „Kult des Ich“. Der junge Barrès behauptete, die erste Pflicht jedes Menschen bestehe darin, alles zu bekämpfen, was die Entfaltung des eigenen Gemüts zu beeinträchtigen drohe.

Die drei Bände der „Culte du Moi“-Reihe, „Sous l’œuil des Barbares“ (1888), „Un homme libre“ (1889) und „Le jardin de Bérénice“ (1891), bescherten ihm beträchtlichen Erfolg und die Ehrung als „Fürst der Jugend“. Léon Blum hob 1903 sein „mit Metaphysik und provokanter Poesie aufgeladenes Denken“ hervor. In seinen Romanen, die zum großen Teil von persönlichen Erfahrungen geprägt sind, tritt Barrès nachdrücklich für die Rechte der individuellen Persönlichkeit gegen alle Sach- und Sozialzwänge ein. „Wir sind niemals so glücklich wie im Überschwang“, heißt es im programmatisch betitelten „Un homme libre“. Das Ich bilde eine „einzigartige Wirklichkeit“, die ständiger Verteidigung und analytischer Betrachtung bedürfe.

Gleichzeitig interessierte er sich jedoch für Politik. Im April 1888 wurde er in der boulangistischen Bewegung aktiv, wobei für ihn die Kritik am parlamentarischen System im Vordergrund stand. Im Folgejahr wurde der 27jährige mit einem „sozialistischen und nationalistischen“ Wahlprogramm als Abgeordneter des Wahlkreises Nancy ins Parlament gewählt. Seinen Wählern versprach er, sich für eine Republik einzusetzen, „die sich um die demokratischen Interessen der Arbeiter und der vom Schicksal Benachteiligten kümmert, anstelle von dieser Oligarchie des Bürgerlichen“. Im Parlament saß er ganz links.

Barrès war Föderalist, Sozialist und Kirchenkritiker und bezeichnete sich selber als „Weltbürger“. „Frankreich ist groß und Deutschland ebenfalls“, schrieb er. „Jenseits der kurzlebigen Politik sind es drei Völker, die in diesem Jahrhundert die Zivilisation steuern: Frankreich, England und auch Deutschland. Und das Verschwinden einer dieser Fackeln wäre für uns ein unwiederbringlicher Verlust.“ Zu seinen „geistigen Vätern“ zählte er Kant, Goethe und Rousseau.

Die Wende zum Nationalismus vollzog er im Zuge der Dreyfus-Affäre. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete er bei der im selben Jahr – 1894 – gegründeten boulangistischen Zeitschrift La Cocarde. Aus „nationalem Instinkt“ war er von der Rechtmäßigkeit der Anschuldigungen gegen Dreyfus überzeugt und machte kein Hehl aus seinem Antisemitismus. Dessenungeachtet sollte er zwei Jahrzehnte später eine inbrünstige Huldigung an die im Ersten Weltkrieg gefallenen französischen Juden verfassen.

Zu dieser Zeit machte er den Schritt vom „Nationalismus des Ich“ zum „Nationalismus des Wir“, ohne jemals die Metaphysik der Subjektivität ganz hinter sich zu lassen. Alles, was er über das „Ich“ gesagt hatte, ließ sich im Grunde für das „Wir“ geltend machen. Sein „Egotismus“ verdichtete sich dabei lediglich. Sein Nationalismus ist ein Individualismus des Wir. Die drei Bände seines „Romans der nationalen Energie“– „Les déracinés“ (1897), „L’appel au soldat“ (1990) und „Leurs figures“ (1902) – sind Zeugnis und Ausdruck ebendieser Entwicklung. In „Les déracinés“ heißt es am Ende: „Der Einzelne ist nichts, die Gesellschaft ist alles.“

Barrès’ große Vorbilder hießen Hippolyte Taine und Ernest Renan. Auch Jules Soury, dessen Vorlesungen an der Sorbonne er von 1893 bis 1897 besuchte, blieb wohl nicht ohne Einfluß auf sein Denken. Der Verlust Elsaß-Lothringens erweckte in ihm den Wunsch, eine neue Form des Patriotismus zu definieren. Dabei glaubte er jedoch stets an eine strikt deterministische Macht, die die Vergangenheit sowohl über den Einzelnen wie über die Gesellschaft insgesamt ausübe („das Tote beherrscht das Lebendige“). Daraus folgt für ihn, daß ein Nationalbewußtsein seine Grundlage in den Wirklichkeiten des Bodens und der Toten finden muß. „La terre et les morts“, so lautete auch der Titel der berühmten Rede, die er am 10. März 1899 vor der Französischen Heimatliga hielt. „Um uns vor einer sterilen Anarchie zu retten, brauchen wir eine Rückbindung an unseren Boden und unsere Toten“, denn „dem Boden verdanken wir unsere Disziplin, und unsere Vorfahren leben ins uns fort“. Er schwang sich zum Apostel einer Lebenshaltung auf, die er als „Verwurzelung“ bezeichnete.

Daß er mit seinem 1902 erschienenen Werk „Scènes et doctrines du nationalisme“ zum Theoretiker des Nationalismus wurde, war gewissermaßen folgerichtig. Mit Charles Maurras war er befreundet, ließ sich jedoch nie von dessen Argumenten zur Monarchie bekehren. Sein Nationalismus war republikanisch, sogar demokratisch geprägt – „bonapartistisch“, könnte man sagen, denn zugleich hängt er einer Art von „Cäsarismus“ an.

Barrès, der von sich sagte, seine Seele setze sich aus verschiedenen Elementen zusammen, ist kein einfacher Autor. Die Doktrin ist bei ihm niemals vor der Macht der Empfindungen sicher: „An der Wurzel aller Dinge herrscht ein Zustand der Empfindsamkeit. Er war stets bestrebt, Gegensätzliches miteinander zu vereinbaren – Nationalismus und Föderalismus, Einheit und Vielfalt, Romantik und Klassik, Empfindsamkeit und Vernunft: „Der Versuch, die Wahrheit ausschließlich mittels der Vernunft festzustellen, wäre vergeblich, denn die Intelligenz ist imstande, immer neue Gründe zu finden, die Dinge wieder in Frage zu stellen.“

Sein Verständnis von Nation lehnte sich an Herder, Edmund Burke und Fichte an. Den Gedanken eines Gesellschaftsvertrags lehnte er dabei ab, da er das Volk als originäre Gegebenheit sah, die keines irgendwie gearteten Gründungsakts bedarf. Für ihn war es eine feste Größe, die doch ständigem Wandel unterworfen sei: weniger eine stets mit sich selbst identische „Rasse“ als vielmehr eine Dynamik, die sich aus einer natürlichen Vielfalt heraus entwickelt und auf den Punkt zustrebt, an dem das Volk zum Träger der Souveränität wird. Es muß ständig durch den Willen zur Verteidigung zusammengehalten werden – nicht nur gegen die „Barbaren“, sondern auch gegen sich selber.

Ab 1905 wird Barrès zum literarischen Wortführer der „Rache an Deutschland“ für die Niederlage, die es Frankreich 1871 beigebracht hatte. Aus diesem Impuls heraus entsteht eine weitere Romantrilogie: „Au service de l’Allemagne“ (1905; dt. „In deutschen Heeresdiensten“, 1907), „Coulette Baudoche“ (1909) und „Le génie du Rhin“ (1921). 1906 erfolgt die Aufnahme in die Académie française, im selben Jahr kehrt Barrès als Abgeordneter ins Parlament zurück. Im Januar 1914 löst er Paul Déroulède als Vorsitzender der Liga der Patrioten ab. Dieses Amt hat er bis zu seinem Tod am 4. Dezember 1923 inne.

Die komplexe Persönlichkeit, die aufgrund der Qualität und thematischen Breite seines Schaffens zu den ganz großen Schriftstellern Frankreichs gezählt wird, lebt nicht zuletzt in dem beträchtlichen Einfluß fort, den sein Werk auf so unterschiedliche Nachfolger wie Henry de Montherlant, Ernst Jünger, André Malraux, François Mauriac oder Louis Aragon ausgeübt hat.

 

Alain de Benoist, französischer Philosoph und Publizist, ist Herausgeber der Zeitschriften „Nouvelle École“ und „Krisis“.

Fotos: Maurice Barrès (1862–1923): Er war stets bestrebt, Gegensätzliches miteinander zu vereinbaren –Nationalismus und Föderalismus, Einheit und Vielfalt, Romantik und Klassik, Empfindsamkeit und Vernunft; Maurice Barrès und Paul Déroulède (in der Mitte nebeneinander) bei einer Versammlung der Liga der Patrioten zu Ehren von Jeanne d'Arc in Paris, 1913: Wortführer der„Rache an Deutschland“

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