© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/12 24. August 2012

Das Gespenst geht wieder um
Tristram Hunts Biographie über Friedrich Engels als Plädoyer für die Aktualität des Marxismus
Jakob Apfelböck

Nach dem Ende des Kalten Krieges galt es zwei Jahrzehnte lang als ausgemacht, daß der Marxismus als ein erledigter Fall anzusehen sei. Allenfalls jene, die ein Faible für Ideengeschichte aufbrachten, schien er noch zu interessieren. Unter dem Schock der Finanz- und Wirtschaftskrise meint jedoch sogar das bürgerliche Feuilleton in jüngster Zeit immer häufiger feststellen zu müssen, daß das Gespenst wieder umgeht. Viel mehr als ein Aperçu ist dies aber nicht. Das Vertrauen in die unsichtbare Hand, die den anarchischen Markt zu vernünftigen Ergebnissen führt, mag zwar erschüttert sein. Der Glaube, daß unsere Form der Organisation von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat wohl oder übel als das letzte Wort der Geschichte anzusehen wäre, ist aber ungebrochen.

Von intellektuellen oder proletarischen Zirkeln, die sich fleißig und trotzig dem „Kapital“-Studium hingäben, ist daher auch nichts zu sehen. Insgesamt ist die Hoffnung geschwunden, die herrschenden Verhältnisse ließen sich durchschauen – als Voraussetzung, um ihrer Herr zu werden. Politische Theorie erschöpft sich in der Exegese der Glaubenssätze von Freiheit, Menschenrechten und Demokratie, ihre abstrakte Anerkennung soll davor bewahren, die konkreten Zustände als illegitim betrachten zu müssen. Selbst in der Linken, die es eigentlich besser wissen müßte, scheint die Bemerkung Stalins, daß Praxis ohne Theorie blind (und Theorie ohne Praxis leer) ist, in Vergessenheit geraten zu sein.

Immerhin hat das lang anhaltende Desinteresse am Marxismus seiner Entdämonisierung Vorschub geleistet. Die Geschütze, die gegen ihn im weltanschaulichen Ost-West-Konflikt und in der Auseinandersetzung mit der 1968er-Bewegung und ihren Ausläufern aufgefahren wurden, sind eingemottet. Wer sich mit Karl Marx und dem Marxismus befaßt, ist nicht mehr genötigt, zunächst eine Antwort darauf zu präsentieren, ob nicht genau hier die Wurzel allen Übels von den Todeslagern Sibiriens bis hin zur Berliner Bauer zu suchen sei.

Es überrascht daher, daß der englische Historiker Tristram Hunt diese Frage in der eher belletristischen Einleitung seines Buches über Friedrich Engels gleichwohl zunächst grüblerisch in den Raum stellt, um sie nach der Besichtigung der Lebensstationen seines Protagonisten im Schlußkapitel dann doch mit leichter Hand zu verneinen. Das Aufatmen muß dem Leser zu diesem fortgeschrittenen Zeitpunkt der Lektüre als gespielt erscheinen. Hunt ist von einer grundsätzlichen Sympathie für Engels getragen, er betrachtet und referiert dessen Begriffe und Lehren nicht nur, sondern bewegt sich in diesen. Der Marxismus ist für ihn daher nicht bloß ein beliebiges ideengeschichtliches Phänomen neben vielen anderen, sondern eine Wissenschaft, die die Bewegungsgesetze der Gesellschaft erfaßt und auf diese Weise den Menschen befähigt, die Entfremdung zu überwinden, indem er sich aus der Rolle des bloßen Objekts vermeintlich unbeeinflußbarer Prozesse zu einem diese gestaltenden Subjekt aufschwingt.

Dieser Marxismus mag zwar nicht den Namen von Friedrich Engels tragen, doch ist er von ihm maßgeblich geprägt worden, die deutschen Herausgeber gehen sogar so weit (zu weit), ihn als dessen eigentlichen Erfinder auszugeben. Tatsächlich erschöpft sich die Symbiose zwischen Marx und Engels, die in der Geschichte der politischen Ideen wohl als einmalig zu betrachten ist, nicht in jenen Freundschaftsdiensten, die bei zeitgenössischen Wahlverwandtschaften üblich waren.

Der Barmener Fabrikantensohn, der nach dem Scheitern der 1848er-Revolution zwanzig Jahre lang in Manchester als leitender Angestellter und schließlich Teilhaber eines Textilunternehmens wirkte, hat dem im Londoner Exil gestrandeten Privatgelehrten nicht bloß einen Resonanzboden zur Prüfung seiner Gedanken geboten und ihm mitsamt seiner Familie durch großzügige finanzielle Zuwendungen eine mehr als nur standesgemäße Lebensführung ermöglicht.

Vor allem steuerte er, wo Marx eher auf Lektüren angewiesen war, Empirie und Praxisbezug zum gemeinsamen Werk bei, durch eigenständige Schriften wie nicht zuletzt „Die Lage der arbeitenden Klassen in England“, aber auch durch die Vermittlung seiner Erfahrungen in realen Wirtschaftsprozessen. Darüber hinaus nahm er sich, sozusagen in geistiger Arbeitsteilung, bestimmter Themengebiete an, wie insbesondere der Militärtheorie und -geschichte. Seine etwa in der Analyse des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 zur Anwendung gebrachte Expertise auf diesem Gebiet trug ihm den Spitznamen „General“ ein.

Als Marx 1883 starb, fiel Engels die verwaiste „erste Violine“ zu. Er formte aus dem Nachlaß des Freundes den zweiten und den dritten Band des „Kapitals“, versuchte sich an einer „Dialektik der Natur“ und bemühte sich, die in dieser Zeit anschwellenden sozialistischen Bewegungen Europas am Marxismus auszurichten. Hunt arbeitet heraus, daß er hierbei eine Gelassenheit gegenüber Abweichungen an den Tag legte, an der es ihm und Marx in den Jahrzehnten zuvor gemangelt hatte. Die Schuldzuweisung, Engels habe eine Dogmatisierung der Lehre betrieben, kontert sein Biograph mit einem Zitat aus einem Brief an Werner Sombart: „Die ganze Auffassungsweise von Marx ist nicht eine Doktrin, sondern eine Methode. Sie gibt keine fertigen Dogmen, sondern Anhaltspunkte zu weiterer Untersuchung und die Methode für diese Untersuchung.“ Vielleicht ist es ja, wenn man diesen Zugang wählt, tatsächlich nicht abwegig, sich vom Marxismus interessante Aufschlüsse über den globalisierten Kapitalismus zu versprechen.

Tristram Hunt: Friedrich Engels. Der Mann, der den Marxismus erfand. Propyläen Verlag, Berlin 2012, gebunden, 574 Seiten, Abbildungen, 24,99 Euro

Foto: Nikolai N. Schukow, Friedrich Engels in seinem Arbeitskabinett, 1939: Desinteresse hat seiner Entdämonisierung Vorschub geleistet

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