© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/12 31. August 2012

Papier ist geduldig
Opposition findet nicht in der Politik, sondern auf dem Büchertisch statt. Leider derzeit folgenlos.
Thorsten Hinz

Gertrud Höhlers Buch „Die Patin“ ist ein Frontalangriff auf die Kanzlerin. Die scharfzüngige Professorin sieht in Angela Merkel eine Person, die einen mafiotischen Virus in die Bundesrepublik getragen hat, welcher den Rechtsstaat und die Demokratie von innen zerstört. Sie nennt sie eine „politische Heuschrecke“, unterstellt ihr Egomanie, den Selbstzweck des Machtgenusses, das Desinteresse an politischen Zielen und Wertneutralität.

Höhler überschätzt die politische Bedeutung von Merkels Charakter und ihren schöpferischen Beitrag zu der Entwicklung. Die Kanzlerin ist weniger die treibende Kraft als deren ideale Funktionärin. Indem sie die Politik entpolitisiert und technokratisch administriert, ist sie zugleich die adäquate Vertreterin eines Staatsvolks, das nicht willens und in der Lage ist, seine Lebensfragen zu formulieren, zu diskutieren und durchzusetzen. Wenn Frau Höhler Merkel die Prägungen vorhält, die sie in der DDR empfangen hat und nun die Bundesrepublik gefährden, dann läßt sich kühl erwidern, daß ausgerechnet diese Eigenschaften Frau Merkel für die Kanzlerschaft prädestinieren. Das verweist auf geheime Konvergenzen und Ähnlichkeiten beider deutscher Nachkriegsstaaten.

Gemeinsam ist ihnen der Mangel an geistig-moralischer Selbstbestimmung und an staatspolitischem Bewußtsein. „Deutschland ruiniert sich!“ So hat der frühere slowakische Parlamentspräsident Richard Sulik kürzlich die sogenannte Euro-Rettung auf den Punkt gebracht. Er fordert die deutsche Politik auf, die Währungskrise nicht nur als technisches, sondern als politisches Problem zu begreifen, das heißt als Ausdruck konkurrierender Staatsinteressen, und sich nicht länger über den Tisch ziehen zu lassen.

Es wäre der dritte Ruin Deutschlands innerhalb von hundert Jahren. Von ihm wird es keine Erholung mehr geben, denn die demographische Situation ist hoffnungslos, es fehlt das junge, zupackende Kreativpotential, das nach zwei verlorenen Weltkriegen wenigstens noch vorhanden war.

Die Deutschen sind im Begriff, in eine noch nicht nominelle, aber faktische Minderheitenposition zu geraten. Sie werden zur überalterten und damit passiven und schutzbedürftigen Gruppe, die im eigenen Land auf andere, junge und fordernde Ethnien trifft. Die von Höhler monierte Abschaffung der Demokratie und der Volkssouveränität, die einer Brüsseler Bürokratendiktatur geopfert wird, vollendet das düstere Zukunftsbild.

Die Funktionseliten aber scheinen diese Zukunft gar nicht als düster zu empfinden. Wie in der DDR, wo man sich lange Zeit mit der angeblich gesetzmäßig verlaufenden geschichtlichen Entwicklung abfand, stellen auch sie die einmal begonnene Generallinie nicht in Frage, sondern setzen ihren Ehrgeiz darein, sie zu managen. Die Kanzlerin verkörpert diese wertfreie Politik von allen am klarsten. Der Bundestag ist weitgehend funktionslos, und die Medien bilden gemeinsam mit der Politik ein osmotisches System. Das gilt neben den öffentlich-rechtlichen Sendern auch für die Zeitungen, die dem Leser oft das Gefühl vermitteln, daß sie unter der Hand aus einem staatlichen Reptilienfonds gespeist werden.

Bleibt also die Rebellion der Buchautoren, die hin und wieder sogar von den Medien und von der Politik aufgegriffen wird. Die bekanntesten Beispiele waren zuletzt Hans Magnus Enzensbergers Philippika gegen das „Sanfte Monster Brüssel“, „Das Ende der Geduld“ der verstorbenen Jugendrichterin Kirsten Heisig sowie Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ und „Europa braucht den Euro nicht“.

Vielleicht setzt Höhlers Streitschrift diese Reihe fort. Vor allem der Erfolg von Sarrazins erstem Titel wurde vom Publikum gegen Politik und Medien erzwungen. Damit hat sich seine politisch-operative Wirkung aber auch erschöpft. Nicht einmal die Rhetorik der Politiker und der tagesaktuellen Medien hat sich seitdem geändert. Sein Euro-Buch, das im aktuellen politischen Kontext noch brisanter wirkt, jedoch eine abstraktere Materie behandelt, spielte schon keine große Rolle mehr. Als Beispiele für eine lebendige politische Debattenkultur können die Publikationen also nicht dienen.

Ihre unmittelbare Wirkung war die folgenlose Entladung aufgestauten Drucks und damit die Stabilisierung der politischen Lage, die sie kritisieren.

Eine Rolle spielt das Eigeninteresse der politisch-medialen Klasse, die parteiübergreifend das Land in den Morast geführt hat und kein Interesse daran hat, daß ihr politisches Versagen und ihre mögliche rechtliche Verantwortung thematisiert werden. Statt auf der politischen Ebene sollen die Probleme weiterhin unpolitisch und rein technisch diskutiert werden: So wird, um die Euro-Krise zu beheben, eine Vermögensabgabe der Deutschen ventiliert. Aber auch objektive Zwänge sind wirksam: Die Hochfinanz hat die Politiker in einem Ausmaß zu Marionetten degradiert, die selbst orthodoxe Marxisten verblüfft.

Und der deutsche Michel? Er schreckt bei jedem neuen Weckruf hoch, jedoch nur, um sich auf die andere Seite zu drehen. Er hat die staatspolitische Paralyse verinnerlicht. Die Jugend, soweit überhaupt politisch interessiert, halluziniert ihren tristen Kampf gegen Rechts. Proteste und Kundgebungen finden – wie zuletzt in Rostock-Lichtenhagen – nur noch als Bußexerzitien statt, vergleichbar den Sühneprozessionen in den Pestzeiten des Mittelalters, als die Flagellanten sich selber geißelten, um das Böse aus der Welt zu schaffen.

Trotzdem bleibt das kritische Buch wichtig: Es verbürgt eine geistige Kontinuität und kann im Moment einer möglichen politischen Epiphanie für Helligkeit sorgen.

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