© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/12 31. August 2012

„Intellektualität statt nur Dagegensein“
Die Gründung einer konservativen Plattform in der CDU ist vertagt. Scheitert der „Berliner Kreis“, bevor er begonnen hat? Politologe Werner Patzelt warnt: Ohne Erneuerung des Konservatismus geht es nicht.
Moritz Schwarz

Herr Professor Patzelt, fast alle politischen Bestseller der letzten Jahre waren konservativ orientiert, ob „Lob der Disziplin“, „Deutschland schafft sich ab“ oder jetzt Gertrud Höhlers „Die Patin“. Warum aber findet das offenbare Interesse der Bürger für Konservatives keinerlei Niederschlag in der politischen Landschaft?

Patzelt: Das ist kein Widerspruch. Es liegt doch in der Luft, daß eine Spaßgesellschaft weder bestandsfähig noch der zunehmenden Konkurrenz in der Welt gewachsen ist. Die Leute fühlen das – und daß wir andere Antworten brauchen als die populären. Es ist nur noch nicht die Politikersprache gefunden, sie überzeugend zu formulieren.

Warum nicht?

Patzelt: Weil der politische Konservatismus nicht intellektuell genug ist! Als konservativ empfinden sich viele, die über gegenwärtige Entwicklungen besorgt sind. Sie greifen dann zu zeitkritischen Schlagworten und begeben sich in aufgebrachte Distanz zur eigenen Zeit. Aus solcher Verklemmung entsteht aber keine anziehende Zeitdiagnose. Der Publizist Johannes Gross hat das einmal so auf den Punkt gebracht: „Die Union ist eine unintellektuelle Partei, und ist auch noch stolz darauf!“ Solange sich das nicht ändert, findet konservative Opposition nur außerhalb der Union Widerhall.

Einige CDU-Konservative wollen das ändern und sich dazu im sogenannten „Berliner Kreis“ zusammenschließen. Bisher konnte man sich allerdings noch nicht einmal auf ein gemeinsames Manifest einigen.

Patzelt: Ja, dieser Kreis kommt gar nicht oder nur zögerlich in Schwung.

Woran liegt das?

Patzelt: Erstens ist da eine strategische Schwierigkeit: Eine konservative Gruppierung kann heute in der CDU Anerkennung nur finden, wenn sie plausibel macht, sie werde die Wahlaussichten der Union verbessern. Das führt zum zweiten Problem: Nicht jede Art von Konservatismus tut der CDU gut – vor allem nicht die schlichteste aller konservativen Haltungen: Neuerungen deshalb abzulehnen, weil sie ins Ungewisse führen, und sich gegen das Verständnis ihres Sinns zu sperren, wenn die absehbaren Folgen schrecken. Aber angesichts großer Herausforderungen hält man sich besser nicht an einen Strohhalm, also selbstzweckartig ans Überkommene, und klammert sich besser ebensowenig an bloße Begriffe, mit denen sich gar keine Lebenspraxis mehr verbindet. Eben das empfindet man aber, wenn JU-Politiker die Formel von den „konservativen Werten“ verwenden oder CDU-Granden jene vom „christlichen Menschenbild“. Das letztere wirkte in der Geschichte ohnehin meist auf Wandlung bestehender Zustände hin, und die ersteren sollte man lieber konkret benennen.

Was ist Ihr Gegenvorschlag?

Patzelt: Erstens kann man ein komplettes politisches Programm um das Konzept der Nachhaltigkeit bauen: von der Nachhaltigkeit im Finanzwesen über die bei der Bevölkerungsentwicklung bis zu der beim Umgang mit der Natur. Zweitens kann man gleichsam „bei der Evolution in die Lehre gehen“ und sich Konservatismus als Methode aneignen. Das heißt: Man läßt sich vorsichtig auf „Versuch und Irrtum“ ein – und findet beim kritischen Blick auf Geschichte und Gegenwart heraus, was wohl wirklich Bestand haben kann, was anderes aber ideologische Moden sind. Um auf diese Weise konservativ zu sein, braucht man aber ein anderes Maß an Intellektualität als für trotziges Dagegensein.

Sie wollen andeuten, die Protagonisten des „Berliner Kreises“ sind intellektuell nicht in der Lage, konservative Positionen überzeugend zu formulieren?

Patzelt: Das ist etwas, was ich befürchte, seit ich das – damals als Inbegriff konservativer Denkweise gepriesene – Mißfelder-Mappus-Papier gelesen habe.

Warum?

Patzelt: Weil es von erhellender Dürftigkeit war.

Stefan Mappus ist Geschichte, und Junge-Union-Chef Philipp Mißfelder beobachtet erstmal, ob der „Berliner Kreis“ Erfolg hat.

Patzelt: Das erste ist gut, das zweite Beweis dafür, wie wenig ernst das Anliegen genommen wird. Und wenn man jetzt liest, daß sich diese Kurserneuerer bereits in den Details von Betreuungsgeld oder Mindestlohn verfitzt haben, dann zweifelt man an der geistigen Spannkraft, mit der da eine Erneuerung des Konservatismus versucht wird. Wer sich in Politikdetails vertändelt, ist zu nahe am Routinegeschäft – und das dominiert die Kanzlerin mit ihrem Fraktionsvorsitzenden. Da ist kein Durchkommen für einen erneuerten Konservatismus! Also sollte man sich nicht aufs Mosern über die Pragmatik der Kanzlerin einlassen, sondern – die Wähler im Blick – ans Erneuern des Konservatismus machten. Die Brücke zur Kanzlerin schlägt man über ein Lob ihrer Politik von „Versuch und Irrtum“, und zu auf Kurs haltenden Inhalten gelangt man über die Leitidee der Nachhaltigkeit.

Mit dem Begriff „Nachhaltigkeit“ schmücken inzwischen alle Parteien ihre Programme aus. Was meinen Sie konkret?

Patzelt: Nachhaltigkeit bei der Staatsfinanzierung und bei der Energieversorgung erklären sich selbst. Sie sind inzwischen auch recht unstrittig. Wie sehr Nachhaltigkeit aber polarisieren kann, zeigt die Bevölkerungspolitik. Schon die folgende Frage scheidet die Geister: Sollen unsere Nation und Kultur überhaupt nachhaltig gesichert werden? Und was muß tun, wer unsere Nation und ihre Kultur erhalten will? Erstens: Es braucht Kinder von Deutschen. Das geht nicht ohne Zusammenwirken von Frau und Mann. Zweitens: Es braucht Zuwanderung – aber beschränkt auf Leistungsträger und solche, die nicht Ausländer bleiben wollen. Drittens: Es ist die deutsche Kultur auf die Kinder der Zuwanderer zu übertragen, damit sie – sozusagen – türkische Deutsche, nicht deutsche Türken werden. Fehlt eines dieser Elemente, so verkümmert die deutsche Nation oder fällt unsere Gesellschaft auseinander. Kann man sich mit „Nachhaltigkeit“ eigentlich klarer profilieren?

Von solchen Beispielen abgesehen könnten Sozialdemokraten oder Grüne aber genauso argumentieren. Ist Ihre Vorstellung von Konservatismus also nicht zu allgemein?

Patzelt: Sind denn die Leitideen von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft zu allgemein für klare Unterschiede zwischen den Parteien? Und was wäre falsch an einem Leitgedanken, der allen vernünftigen Parteien einleuchten kann? Auch darf man den zweiten, methodischen Bestandteil von Konservatismus nicht vergessen: „Bei der Evolution in die Lehre gehen!“ Die ist sowohl innovativ, da ihre Zufälle alles Mögliche austesten, als auch konservativ, weil sie an bewährten Lösungen festhält – wie an der vor über 450 Millionen Jahren entstandenen Wirbelsäule. Konservativ sein heißt also: Festhalten an dem, was sich bislang bewährt hat und weiterhin zu bewähren verspricht – und offen sein für neues Lernen unter neuen Umständen durch Versuch und Irrtum! Eine solche Haltung paßt bestens in unsere dynamische Parteienkonkurrenz: Betont wird nicht Ausgrenzendes, sondern ein verbindender Leitwert und eine erprobte Methode. Kommt man mit beidem zu vernünftigen politischen Positionen, eröffnet das einer im richtigen Sinn konservativen Partei dauerhafte Machtperspektiven.

Das müssen Sie erklären.

Patzelt: Die Union braucht meist einen Partner, um regieren zu können. Also braucht sie überzeugende Leitkonzepte, die auch vernünftige Mitglieder anderer Parteien ansprechen können – wie die hier vorgeschlagenen. Hingegen setzen die üblichen Forderungen nach Konservatismus auf Aus- und Abgrenzung. Derlei fällt aber sozusagen dem „Gesetz der Sozialistenspirale“ zum Opfer: Je reiner die Lehre, um so kleiner der Kreis ihrer Anhänger. Diesem schlechten Beispiel wackerer Linker sollte die Union nicht folgen.

Aber ist das nicht gerade das Problem der CDU: Sie muß oder will sich derart an die Umstände anpassen, daß sie ihre Inhalte und so ihre Identität verliert – Regieren um jeden Preis, kann schließlich nicht alles sein. Das Unternehmen „Berliner Kreis“ ist doch eine Reaktion gerade darauf!

Patzelt: Sobald man entlang der Idee der Nachhaltigkeit ins Detail geht, stellt man rasch große Unterschiede fest zwischen realistischen Positionen, die ich der Union wünsche, und ideologischen Tagträumen, die sich oft bei linken Parteien finden. Und die Einsicht, daß Erfahrungen aus Versuch und Irrtum konservativ machen, polarisiert ebenfalls.

Wenn die Union über konservative Themen spricht, redet sie von Bildung, Kindererziehung oder Marktliberalisierung, aber schon lange nicht mehr von Volk und Nation. Dabei sind doch gerade das die Grundwerte des Konservatismus. Ist eine Konservatismus-Renaissance in der CDU ohne offensive Vorwärtsverteidigung dieser Werte nicht von Anfang an Blendwerk?

Patzelt: Sicher! Hier scheuen große Teile der Union den Meinungsstreit, weil sie sich oft als unterlegen erleben. Gegen dies Kneifen hilft nur ein intellektuelles Fitneßprogramm. Eine Debatte um Volk und Nation wäre ein guter Leistungstest.

Auch wenn sich die Union formal zur Nation bekennt, de facto befördert sie Stück für Stück die Selbstaufgabe des Nationalstaates im Zuge der „Euro-Rettung“. Wie sollte eine konservative Plattform in der Union da je glaubwürdig sein?

Patzelt: Nicht nur den Konservativen, sondern den meisten Deutschen leuchtet es nicht ein, wenn in unserem Land die Demokratie dadurch eingeschränkt wird, daß wir unsere finanziellen Selbstbestimmungsrechte durch Europäisierung unseres Steueraufkommens und unserer Zahlungspflichten aufgeben. In dieser Lage ließe sich leicht erklären, daß um der Demokratie willen dem unkontrollierten Zusammenspiel der Regierungs-
chefs engere Grenzen gesetzt werden sollten. Und es wirkte als reinigendes Gewitter, wenn die Union als Gegenleistung für weitere EU-Kompetenzen ein Wahlrecht für das Europäische Parlament forderte, bei dem jede Wählerstimme das gleiche Gewicht hätte – und für die Europäische Zentralbank Stimmengewicht für jedes Land gemäß seiner Wirtschaftskraft. Sicher sind das heiße Eisen, doch sie müssen geschmiedet werden – und am besten von Leuten, die in der EU auf Nachhaltigkeit und Lernen aus Versuch und Irrtum setzen.

Tatsächlich aber haben etliche der verbliebenen CDU-Konservativen dem Euro-Rettungsschirm im Bundestag zugestimmt.

Patzelt: Daran haben sie nicht gut getan.

Andererseits wird offensiver Umgang mit Volk und Nation sofort den Einsatz der „Faschismus-Keule“ provozieren.

Patzelt: Wer erfolgreich kochen will, darf die Hitze der Küche nicht scheuen und muß Fehler vermeiden, hier: den Gebrauch verdrehbarer Äußerungen.

In der Praxis ist dies allerdings nur möglich, wenn man sich fast ganz und gar der politischen Korrektheit unterwirft. Damit ist ein selbstbestimmtes Reden und Auftreten in dieser Frage aber unmöglich.

Patzelt: Man muß Erfolg unter den Bedingungen anstreben, die bestehen! Oft kann man sie sogar nutzen: Das Dritte Reich war doch in vieler Hinsicht revolutionär, hatte mit Nachhaltigkeit wenig im Sinn – und seine kritische Aufarbeitung gehört zu den Ruhmesblättern deutscher Geschichte.

Ja – auch wenn fraglich ist, wie kritisch die Aufarbeitung wirklich war –, jedenfalls seitdem kann nur auf distanzierte Art und Weise über Volk und Nation gesprochen werden. Diese Entfremdung müßten authentische Konservative überwinden – was aber unausweichlich zum Einsatz der „Faschismus-Keule“ führt.

Patzelt: Und deshalb muß man intelligenter sein als die Keulenschwinger! Vom hier beschriebenen richtigen Verständnis von Konservatismus getragen, kann man sich diesem Kampf gut stellen – und kann ihn gewinnen, wenn man ihn gelassen, verantwortungsbewußt und mit intellektueller Fitneß führt.

Nochmal die Frage: Besteht denn halbwegs die Aussicht, daß der „Berliner Kreis“, so er sich je konstituiert, all diesen Anforderungen gerecht wird?

Patzelt: Einesteils bin ich da skeptisch. Andernteils ist der von mir umrissene Konservatismus windschnittig, durchaus zeitgeistig und obendrein zukunftsträchtig. Gerade er hilft beim Gewinnen von Wahlen und Koalitionspartnern. Und sobald die CDU wieder in der Opposition ist, kann sie einer Diskussion um ihren unklaren Konservatismus ohnehin nicht ausweichen.

 

Prof. Dr. Werner Patzelt, eine „Wiederentdeckung des Markenkerns der Union“ forderte der Politologe Werner Patzelt, selbst CDU-Mitglied, im Interview mit dem Deutschlandfunk. Im Magazin Cicero kritisierte er: „Die Union hat keine Persönlichkeiten mehr, die glaubwürdig für einen aufgeklärten Konservatismus stehen.“ Der gebürtige Passauer, Jahrgang 1953, war nach der Wende Gründungsprofessor des Instituts für Politikwissenschaft an der TU Dresden, der größten Universität Sachsens, und hat dort seit 1992 den Lehrstuhl für Politische Systeme und Systemvergleich inne. Er sitzt außerdem im Kuratorium der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, ist federführender Herausgeber der „Studien zum Parlamentarismus“ (Nomos-Verlag) und Mitherausgeber der Buchreihe „Politikwissenschaftliche Theorie“ (Ergon-Verlag) sowie Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung. 1994 erhielt er den Wissenschaftspreis des Deutschen Bundestags für seine Arbeit „Abgeordnete und Repräsentation. Amtsverständnis und Wahlkreisarbeit“.

Foto: Merkel – und dahinter nichts (derangiertes CDU-Plakat): „Hier scheuen große Teile der Union den Meinungsstreit. Da hilft nur ein intelektuelles Fitneßprogramm. Eine Debatte um Volk und Nation wäre ein guter Leistungstest.“

 

weitere Interview-Partner der JF

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen