© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/12 31. August 2012

Pankraz,
A. P. Sloan und die geplante Obsoleszenz

Ein neues Angst- und Donnerwort durchzieht die intellektuellen Diskussionen: die „Obsoleszenz“, genauer: die „geplante Obsoleszenz“. „Obsolet werden“ ist das zugehörige Verb; es heißt „veralten“, was scharf zu unterscheiden ist von „alt werden“. Man kann alt werden, ohne zu veralten, und man kann noch durchaus jung sein und ist doch schon total veraltet. Altwerden ist ein Naturprozeß, Obsoletwerden ein Sozialprozeß. Das Altwerden kann nicht geplant werden, das Obsoletwerden dagegen sehr wohl. Und genau das regt zur Zeit viele Naturschützer und sonstige Ökologen bis zur Weißglut auf.

Der moderne Kapitalismus, sagen sie, produziert aus Gründen des Profitstrebens nicht mehr nach den ihm zur Verfügung stehenden Optimierungsmöglichkeiten, sondern er baut planmäßg frühe Verfallsdaten in seine Produkte ein, verschlechtert sie also künstlich. Oder er versieht Produkte, die ihrer Funktionalität nach völlig unverändert bleiben, mit rein äußerlichem, schnell wechselndem Schnickschnack, um damit den Kunden vorzugaukeln, daß hier etwas „absolut Neues“ entstanden sei, welches er, der Kunde, einfach kaufen „muß“.

Auf dem Fernsehkanal Arte wurde kürzlich jener noch gar nicht alte, mittlerweile aber fast schon klassische Dokumentarfilm „Prêt à jeter“ von Cosima Dannoritzer gezeigt (deutscher Titel: „Kaufen für die Müllhalde“), der die großindustriellen Methoden geplanter Obsoleszenz in aller Ausführlichkeit ins Bild rückt. Es war ein wahrhaft grausliches Seherlebnis.

Geplante Obsoleszenz, in welche Branche man auch hineinschaut. Es geht schon mit dem Einkauf der zu bearbeitenden Rohstoffe los, welche keineswegs nach ihrer Qualitität ausgesucht werden, sondern nach ihrer „Minderqualität“, danach also, ob sie – ohne daß man es ihnen ohne weiteres ansieht – früher mürbe werden als die eigentlich erste Wahl und so das ganze Produkt schnell alt aussehen lassen oder reparaturanfällig machen.

Gleichzeitig wird von Anfang an dafür gesorgt, daß das Produkt bei ersten anfallenden Schäden faktisch nicht repariert werden kann, weil nämlich eine eventuelle Reparatur so teuer käme, daß sie gar nicht mehr lohnt und der potentielle Kunde lieber sofort zum Neukauf schreitet. Oder man plant, etwa bei der Smartphone-Herstellung, lange im voraus Zubehörvarianten, die der ehrgeizige Kunde später zur Komplettierung seines Apparats unbedingt haben möchte und fast automatisch dazukauft; er hätte sie schon beim ersten Kauf haben können, doch der Hersteller wollte es anders.

Kein Trick scheint mehr zu billig. Bei Handys werden bewußt Schalen oder Gehäuse mit Kunstlederanteilen eingesetzt, die bald ausgesprochen schäbig aussehen und nach Austausch geradezu schreien. Ketchup-Flaschen werden so gestaltet, daß stets eine nicht nutzbare Restmenge darin verbleibt und man zu einer neuen Flasche greifen muß, um die Würze zu vollenden. Filmemacherin Dannoritzer vermutet sogar, daß manche Firmen „Mechanismen einbauen, die nach einer gewissen Betriebsstundenzahl (knapp nach der Garantiezeit) eine Zerstörung wichtiger Funktionskomponenten hervorrufen“.

Nun ist das Phänomen der geplanten Obsoleszenz an sich nicht neu. Als ihr Erfinder und erster Theoretiker gilt der legendäre langjährige Präsident von General Motors, des amerikanischen Autokonzerns, Alfred P. Sloan jun. (1875–1966), der schon in den 1920er Jahren seine Chevrolets und Oldsmobiles so konstruieren ließ, daß die meisten Kunden bereits beim Kauf eines aktuellen Modells unabweisbar eine Sehnsucht nach dem nächsten befiel.

Sehr bekannt geworden ist auch das sogenannte „Phoebuskartell“ von 1924, in dem sich die führenden Beleuchtungsfirmen der damaligen Zeit verabredeten, die Brenndauer der von ihnen produzierten Glühbirnen auf maximal tausend Stunden zu begrenzen, um einen kontinuierlichen Absatz zu sichern. Dieses Phoebuskartell war, wie Pankraz sich erinnert, ein zentraler Bestandteil im marxistisch-leninistischen Grundunterricht („Gewi-Unterricht“) an den Schulen der DDR. Man wollte damit beweisen, daß der Kapitalismus aus schnöder Profitgier den technischen Fortschritt der Menschheit in kriminellster Weise behindere.

Inzwischen ist definitiv geklärt, wer den technischen Fortschritt in Wahrheit behindert hat: Es war der Sozialismus, und zwar völlig wider Willen; seine Funktionäre glaubten, an der Front zu marschieren, und waren doch immer nur Schrottproduzenten. Was aber den Kapitalismus betrifft, so hat auch er sich inzwischen „überholt“, obsolet gemacht. Er produziert mehr, als er verkaufen kann, und muß seine Produkte nun künstlich veralten, sie also ebenfalls zu prospektivem Schrott machen, und zwar – im Gegensatz zu den sozialistischen Funktionären – willentlich und äußerst planvoll.

Wohlgemerkt: Es handelt sich dabei nicht um das Ränkespiel einiger weniger Profiteure, nicht um eine simple „light bulb conspiracy“ („Glühbirnenverschwörung“), wie der englische Titel des Films von Cosima Dannoritzer glauben machen möchte. Vielmehr geht es um eine Sache auf Leben und Tod, die das gesamte gesellschaftliche System betrifft. Millionen von Arbeitsplätzen hängen vom Funktionieren der geplanten Obsoleszenz ab, darunter gerade die qualifiziertesten, bildungsmäßig aufwendigsten, es geht um Forschungsfreiheit und um das Recht auf freies Disponieren und Entscheiden.

Das menschliche Wesen ist ausgespannt zwischen dem Streben nach solider Lebenssicherheit einerseits, dem ewigen Suchen nach immer Neuem und modisch Differenziertem andererseits. Diese Spannung im rechten Maß zu halten, sie nach keiner Seite hin bis zum Zerreißen auszudehnen, sie aber auch nicht einschrumpfen und verkümmern zu lassen – das ist das Gebot der Gegenwart und die Aufgabe für wirtschaftliche und politische Strategen. Aber vor allem muß der Blick von Kunden jeglicher Couleur für das, was wirklich gut, und das, was verächtlicher Talmi ist, wieder geschärft werden.

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