© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/12 31. August 2012

Diplomatie für das Alibi
Das Geplänkel zwischen Polen, England und dem Deutschen Reich war 1939 von keinem ernsthaften Bemühen um Kriegsverhinderung getragen
Stefan Scheil

Am Vormittag des 31. August 1939 erhielt der polnische Botschafter in Berlin einen Besuch, der ihm sehr unangenehm war. Jozef Lipski vertrat die Geschäfte der Republik Polen in Deutschland schon seit fast sechs Jahren. Jetzt war er gerade dabei, sie zum Abschluß zu bringen. In der Botschaft packte man bereits, die Möbel waren teilweise schon verschickt, der polnisch-deutsche Konflikt wurde erwartet. Da kamen um elf Uhr morgens Botschaftsrat George Ogilvie-Forbes von der britischen Vertretung und der schwedische Unternehmer Birger Dahlerus vorbei. Mit im Gepäck hatten sie die Vorschläge der deutschen Regierung für direkte deutsch-polnische Verhandlungen, gegliedert in sechzehn Punkte.

Die Peinlichkeit war unvermeidlich. Eigentlich hatte Lipski das deutsche Verhandlungspapier im deutschen Außenministerium abholen sollen. Die britische Botschaft hatte noch in der Nacht angerufen und ihm das dringend nahegelegt. Er hatte abgelehnt. Nun wurde es ihm nachgetragen und verlesen. Ein Ausweichen war nicht möglich, aber Lipski ließ sich etwas einfallen. Der bisher für sein fließendes Deutsch bekannte Diplomat erklärte den überraschten Besuchern, er verstehe nichts. Da gab man ihm das Papier in die „zitternden“ Hände. Aber er erklärte, nicht lesen zu können, was dort stehe.

Um sich der Aufgabe als Übermittler zu entledigen, diktierte Dahlerus schließlich den Inhalt im Nebenzimmer Lipskis Sekretärin. Inzwischen erklärte Polens Botschafter dem Briten den Grund für den plötzlichen Sprachverlust: Er habe in keiner Weise Anlaß, sich für Noten oder Angebote von deutscher Seite zu interessieren. Er kenne die Lage in Deutschland nach seiner fünf-einhalbjährigen Tätigkeit als Botschafter gut und habe intime Verbindung mit Göring und anderen aus den maßgebenden Kreisen; er erklärte, davon überzeugt zu sein, daß im Fall eines Krieges Unruhen in diesem Land ausbrechen und die polnischen Truppen erfolgreich gegen Berlin marschieren würden.

Den grundsätzlichen Inhalt der deutschen Verhandlungsangebote kannte Lipski zu diesem Zeitpunkt bereits fast ein Jahr. Ende Oktober 1938 hatte er sie durch Deutschlands Minister des Äußeren, Joachim von Ribbentrop, persönlich präsentiert bekommen. Damals, direkt nach dem Münchener Viermächteabkommen mit England, Frankreich und Italien waren sie Teil einer diplomatischen deutschen Beruhigungsoffensive für ganz Europa gewesen. Mit der Eingliederung Sudetendeutschlands war in München faktisch eine deutsche Hegemonie in Mitteleuropa anerkannt worden. Jetzt wollte man zeigen, daß man damit maßvoll umgehen konnte. Im Verhältnis zu Polen bedeutete das einen Versuch, das Land als Verbündeten zu gewinnen, etwa im Rang von Italien. Der Boden dafür war von beiden Seiten bereitet. Polen hatte sich in den Vormonaten als wohlwollend neutraler Staat gegeben. Im Gegenzug hatte das deutsche Außenministerium auf Anordnung Hitlers den polnischen Forderungen auf einen Teil der Tschechoslowakei und eine gemeinsame Grenze mit Ungarn nicht widersprochen.

Nun wollte Berlin grundsätzlich werden. Dafür, so dachte man sich die Analogie zu Italien, müßten hier beide Seiten auf etwas verzichten. Italien hatte vor einigen Monaten auf die Unabhängigkeit Österreichs verzichtet, Deutschland dafür auf jeden Revisionismus in Südtirol. Nun sollte Polen auf die Unabhängigkeit der Freien Stadt Danzig verzichten. Dafür bot Ribbentrop, gegen den Rat seines Staatssekretärs Ernst von Weizsäcker, die Anerkennung der bestehenden deutsch-polnischen Grenze an. Das bedeutete den Verzicht auf jeden Revisionismus in Westpreußen, Posen oder Oberschlesien. Gerade diesen Anspruch hatte das Auswärtige Amt seit 1919 stets sorgfältig aufrechterhalten. Auch Ende 1938 empfahl Weizsäcker noch, „Polen auf das uns genehme Größenmaß als Puffer gegen Rußland zu reduzieren“ und zwar durch „Erwerb Memels und Danzigs sowie einer festen Landbrücke nach Ostpreußen“.

Insofern konnte Ribbentrops Angebot, das der deutsche Staats- und Parteichef gebilligt hatte, tatsächlich als gemäßigt gelten. Dennoch reagierte Lipski sofort sehr zurückhaltend. Die weiteren deutsch-polnischen Gespräche, die dann zwischen Oktober 1938 und März 1939 stattfanden, auch unter persönlicher Einbeziehung Hitlers und des polnischen Außenministers Jozef Beck, änderten an dieser polnischen Haltung nichts. Man sagte zu den deutschen Avancen monatelang weder ja noch nein, machte aber auch keine Gegenvorschläge, die etwa hätten angenommen werden können. Zugleich hielt die polnische Diplomatie den genauen Inhalt der deutsch-polnischen Gespräche vor den übrigen Staaten geheim. Englische, französische oder amerikanische Vertreter erkundigten sich in Warschau vergebens.

Das polnische Verhalten hatte mehrere Gründe, die in der Kombination damals von nichtpolnischer Seite wenig verstanden wurden. Geheimhaltung gehörte mit zum Problem. Die Republik Polen verfolgte expansive Zielsetzungen, die wenig nach außen getragen wurden. Wo das doch geschah, wurden sie wegen ihrer erstaunlichen Ausdehnung nicht ganz ernst genommen. Man mache sich in Warschau selbst Hoffnung nicht nur auf Danzig, sondern auf ganz Ostpreußen, Schlesien und Pommern, notierte der Danziger Völkerbundkommissar Carl Jacob Burckhardt im Sommer 1938.

Gelegentlich erhob die Warschauer Regierung auch Forderungen nach Kolonien. Das alles konnte natürlich nicht durch einen deutsch-polnischen Vertrag erreicht werden, ging es doch einseitig auf deutsche Kosten, oder stand wie die Kolonialfrage gar nicht zur deutschen Verfügung. Eine Eingliederung Danzigs in das Deutsche Reich war unter solchen Umständen völlig außerhalb der Diskussion, darüber herrschte in Polen öffentlicher Konsens. Der Versuch Ribbentrops, den polnischen Landhunger in Richtung Ukraine oder das Baltikum ab- und damit von Deutschland wegzulenken, blieb erfolglos.

Polen konnte nicht allein erfolgreich gegen Deutschland vorgehen. Etwas konnte die polnischen Pläne jedoch realisierbar werden lassen, nämlich eine Verschlechterung der deutschen Beziehungen zu den Westmächten. Also wartete die Warschauer Führung bis ins Frühjahr 1939 hinein, wie sich diese Angelegenheit entwickelte, und sie entwickelte sich scheinbar günstig. Bei einer deutschen Hegemonie sollte es nicht bleiben, und die antisemitischen Ausbrüche des 9. November 1938 hatten den Rest besorgt. Aus Washington meldete die polnische Botschaft kurz nach Jahreswechsel, der Krieg gegen Deutschland sei dort praktisch beschlossene Sache. Die Pariser Kollegen bestätigten diese Information. In London gesellte sich der dortige polnische Botschafter eng an die Seite der wachsenden Kriegspartei um Winston Churchill, in erfolgreicher Opposition zur englischen Regierung, wie er später stolz schrieb. Aus London kam dann im März 1939 das finale Signal. Die britische Regierung gab Polen eine militärische Beistandsgarantie, die auch für den Fall einer polnischen Provokation oder Militäraktion gegen Deutschland galt.

Damit waren weitere deutsche Noten und Angebote in der Tat hinfällig, so sah man das in Warschauer Regierungskreisen. Statt dessen galt es, die scheinbar neuen glänzenden Optionen zu nutzen. Allerdings trug Polens Politik so zu einem mehr als brutalen Szenario bei und verschätzte sich in wesentlichen Punkten. Der neue Verbündete aus London hatte keinen Tag die Absicht, sein Garantieversprechen praktisch einzulösen. „Innere Unruhen“ in Deutschland sollte es ebenfalls nicht geben.

Bei der deutschen Regierung vermutete man hinter der Absage Polens und den danach auch öffentlich gedruckten Forderungen nach polnischen Grenzen bis kurz vor Berlin den westlichen Einfluß. Man bereitete sich vor, für den Fall des Krieges öffentlichkeitswirksam die Schuld des Gegners vorzuführen. Dafür kamen nach monatelanger Pause wieder die Vorschläge des Vorjahrs zur Sprache. Ihre Rolle hatte sich allerdings verändert. Im Oktober 1938 waren sie ein echter Ausgleich, mit Verlusten auch für Deutschland. Im August 1939 wäre die Annahme für Polen eine große Niederlage gewesen. Da sich jedoch inhaltlich wenig geändert hatte, konnte Warschau die Verhandlungen darüber kaum öffentlich zurückweisen. Eine exterritoriale Straße nach Ostpreußen, als neue Forderung eine Volksabstimmung unter internationaler Überwachung in Westpreußen, in jedem Fall die Garantie des polnischen Hafens Gdingen und anderes mehr wurde von Deutschland vorgeschlagen. Alles daran war im Prinzip international zustimmungsfähig. Als Gesamtpaket war dieser „16-Punkte-Plan“ aber erkennbar ungeeignet, einen Krieg zu provozieren. Es war das „Alibi“, mit dem Hitler beweisen wollte, daß die anderen den Krieg gewollt hatten.

Die Gegner suchten ihrerseits nach demonstrativer Unschuld. Also kam es zu einer Kette von grotesken Szenen. Da das deutsche Angebot nicht zurückgewiesen werden konnte, Verhandlungen aber nicht mehr stattfinden sollten, bestand die einzige Chance für die polnische und englische Diplomatie darin, es nicht zur Kenntnis zu nehmen. Ribbentrop las es dem britischen Botschafter Nevile Henderson in den frühen Morgenstunden des 31. August 1939 ausführlich vor und kommentierte einzelne Stellen. Am nächsten Morgen begann die britische Botschaft dann die Legende in die Welt zu setzen, Ribbentrop hätte zu schnell geredet und Henderson hätte nichts verstanden. Man reichte daher den Text schriftlich nach. Damit mußten die Briten ihn jetzt Richtung Polen weitergeben, sonst hatten sie den Schwarzen Peter der Verhandlungsverweigerung. Also tauchten Ogilvie-Forbes und Dahlerus in Polens Botschaft bei Lipski auf, der aber ebenfalls nichts mehr verstehen wollte.

Damit war die Farce nicht ganz zu Ende. Am frühen Abend mußte Lipski noch einen letzten Termin im deutschen Außenministerium absolvieren, hatte man doch tagelang zugesagt, für direkte polnisch-deutsche Gespräche bereit zu sein. Nachmittags erhielt er noch ein Telegramm aus Warschau von Minister Beck, das ihn an seine Pflichten erinnerte: „Lassen Sie sich unter keinen Umständen in sachliche Diskussionen ein; wenn die Reichsregierung schriftliche Vorschläge macht, müssen Sie erklären, daß Sie keinerlei Vollmacht haben, solche Vorschläge entgegenzunehmen oder zu diskutieren.“

So geschah es. Damit war der Weg zur später jahrzehntelang kolportierten Behauptung offen, es hätte keine deutschen Verhandlungsvorschläge gegeben. Das britisch-polnische Alibi stand allerdings noch wacklig. Sicherheitshalber riefen Winston Churchill und seine Mitstreiter in den Londoner Zeitungsredaktionen an, um eine entsprechende Berichterstattung sicherzustellen. In Warschau war man zufrieden und rechnete mit einem begrenzten militärischen Schlagabtausch sowie dem Marsch auf Berlin, der in den eigenen, längst mobilisierten Streitkräften propagiert wurde. Daß am nächsten Tag der europäische Teil eines weiteren sechsjährigen Weltkriegs beginnen sollte, ahnte man nicht. Es sollten jedoch für alle Beteiligten wesentlich unangenehmere Situationen folgen als die diplomatische Herausforderung, sich kurzfristig taub zu stellen.

 

Dr. Stefan Scheil ist Verfasser des Buches „Fünf plus Zwei. Die europäischen Nationalstaaten, die Weltmächte und die vereinte Entfesselung des Zweiten Weltkriegs“ (Duncker & Humblot, Berlin 2004). Im Herbst 2012 wird von ihm die Biographie über Joachim von Ribbentrop („Ribbentrop – die Verlockung des nationalen Aufbruchs“. Duncker & Humblot, Berlin 2012) erscheinen. www.duncker-humblot.de

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