© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/12 07. September 2012

Lautlose Sprengungen
Machtpolitik: Die Publizistin Gertrud Höhler seziert das System von Bundeskanzlerin Angela Merkel
Michael Paulwitz

Worin besteht das Erfolgsgeheimnis der Angela Merkel? Im absoluten Relativismus der Werte und Erkenntnisse, der ihr hemmende Wertekonflikte erspart und höchste Wendigkeit ermöglicht, und in der bedenkenlosen Bereitschaft zum Bruch von Regeln und Verträgen, wenn es opportun erscheint, meint Gertrud Höhler. Scharf, elegant und gnadenlos rechnet die Literaturwissenschaftlerin, Publizistin und Beraterin, die gern mit ihrer Nähe zum Merkel-Ziehvater Kohl kokettiert, mit dem mafiotischen „System“ der CDU-Vorsitzenden und „unsinkbaren Kanzlerin“ ab und stellt den autoritären Umbau Deutschlands und Europas als Kollateralschaden eines skrupellosen persönlichen Machtstrebens dar.

„Lautlose Sprengungen“ im Wertesystem nennt Höhler, was da vorgeht: Erst in ihrer Partei, dann im politischen System und schließlich in Europa. „Was national eingeübt wird – zum Beispiel die Entmachtung der Parlamente –, das läuft international dann um so glatter.“ Die „gute Patin von Europa“ – die Inspiration zum Buchtitel stammt offenkundig von dieser Bild-Schlagzeile – erwecke deshalb den Eindruck deutscher Dominanz, weil sie unter all den „Tätern, die Europa durch Rechtsbrüche und Verfassungsverstöße retten wollen“, die qualifizierteste sei.

Höhler seziert die Machtausübungstechniken der Angela Merkel und bringt sie griffig auf den Punkt: das „Undercover“-Verhalten, das schon ihren Weg in die Politik kennzeichnet – abwarten, stillhalten, sich nicht festlegen, dann im richtigen Moment aus der Deckung zuschlagen wie bei der Kohl-Demontage. Merkels FAZ-Abrechnung vom 22. Dezember 1999 hängt Höhler ihrem Buch als Schlüsseldokument an. Dann der beständige Positionswechsel und die Bereitschaft zur Verleugnung früherer Festlegungen, das Experimentieren mit Ankündigungspolitik und die schnelle und schmerzfreie Trennung von allem, was nicht auf Anhieb funktioniert: Aus der entlarvend formulierten Chamäleon-Strategie „Mal bin ich konservativ, mal liberal, mal sozial“ ist zumindest der erste Punkt schon so gut wie ganz gestrichen.

Ermöglicht wird dieses freimütige „Ideenleasing“ durch Bindungslosigkeit, „non-commitment“ in Höhlers Wirtschaftsberatersprache: Die „Werte der anderen“ sind für Merkel nicht bindend, weder in der eigenen Partei noch in Europa, und die „Gültigkeit von Verträgen ist für Angela Merkel Spielmaterial“. Innerparteilichen Konkurrenten habe sie die „Härte und Kälte“ voraus, mit denen sie „Sympathien auf Eis legen“ und Loyalität nach Nützlichkeit sortieren könne – eine Eigenschaft freilich, die unter erfolgreichen Führungskräften alles andere als exklusiv ist. Höhler deutet mehrfach einen Zusammenhang von Merkels Stil und Prägungen durch DDR-Diktatur und familiäres Anpasser-Umfeld an, ist aber klug genug, das nicht monokausal zu tun.

Merkels Aufstieg zeichnet Höhler als Kette von Ausstiegen aus Wertesystemen. Regieren sei für sie ein „Entsorgungsunternehmen für Bindungen“. Eine Machttechnik dafür ist die bedenkenlose „Enteignung“ konkurrierender Programme und Forderungen – exemplarisch skizziert Höhler die familien-, schul- und energiepolitischen Wenden der Union. Vor allem letztere empört die von der wirtschaftsfreundlichen CDU der Ära Kohl geprägte Autorin – die 180-Grad-Energiewende sei eine „parteipolitische Farce auf dem Weg zur Einheitspartei“ und ein „Sprung in Richtung Staatswirtschaft“.

Die programmatische Beliebigkeit der parteilosen Mitte, analysiert Höhler, läßt Parteigrenzen verschwimmen und schaltet Wettbewerb aus, der von der themenscheuen Kanzlerin favorisierte Geist der großen Koalition entwertet Opposition und Parlamente, die macht- statt sachpolitische Überrumpelung durch „alternativlose“ Entscheidungen und „Wenden“ verhängt faktisch Diskussionsverbote. Die Kanzlerin kommandiert durch Schweigen. Merkels Politikstil – „Laß dich nicht ausrechnen, gib keine Versprechen, relativiere alles, was du siehst, auch Ethik und Moral, begreife Werte als Manövriermasse“ – könne so als „Prototyp eines Führungsprofils für eine postdemokratische Epoche“ wahrgenommen werden.

Freilich lauert in Höhlers Ansatz die Falle der Überschätzung und Dämonisierung: Hängt wirklich alles an einer Person, oder ist diese Person nicht vielmehr die authentische Hervorbringung eines Zeitgeistes, dessen Gunst sie konsequent ergriffen hat? Tatsächlich erscheint Merkel weniger als Architektin denn als Vollstreckerin, die die in der demokratischen Moderne angelegte Neutralisierung und Entpolitisierung auf die Spitze treibt. Höhler streift diesen Zusammenhang ebenfalls: „Das krypto-autoritäre System M verdankt seinen Erfolg auch der überdurchschnittlichen Bereitschaft von Bürgern und Abgeordneten, autoritäres Führungsverhalten zu akzeptieren.“

Die entscheidende Frage stellt Höhler selbst: „Wenn die Kanzlerin sich als Pionierin einer neuen, zentralistisch regierten Epoche nach der demokratisch dominierten sieht, ist diese Zielmarke dann so etwas wie ein Programm, das vor allem ihren persönlichen Aufstieg zu neuen, noch gar nicht kreierten Ämtern sicherer machen soll? Oder entspricht ihr undercover eingeschlagener Weg aus der demokratischen in eine zentralistisch regierte, übernationale Staatenwelt einem Erkenntniswandel, der das Unausweichliche dieses Systemwandels als politischen Auftrag versteht?“ Darüber hätte man in der Tat gerne mehr erfahren.

Gertrud Höhler: Die Patin. Wie Angela Merkel Deutschland umbaut, Orel Füss-li Verlag, Zürich 2012, gebunden, 296 Seiten, 21,95 Euro

Foto: Angela Merkel am Montag auf dem Gillamoos-Volksfest in Bayern: „Krypto-autoritär“

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