© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/12 07. September 2012

Die Saga vom Ende der Staatlichkeit
Eine Geschichte des öffentlichen Rechts im Bann der bundesdeutschen Vergangenheitsbewältigung
Tobias Eggert

Mit seiner Wissenschaftsgeschichte des öffentlichen Rechts in beiden deutschen Staaten nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches beschließt Michael Stolleis, langjähriger Direktor des Frankfurter Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte, ein Unternehmen, das ihn ein Vierteljahrhundert beschäftigt hat. Vier stattliche Bände, die mit der „Reichspublizistik und Policeywissenschaft“ in der Frühen Neuzeit einsetzen, sind seit 1985 entstanden, als der Verfasser die VW-Stiftung um Unterstützung bat – in der „naiven Absicht“, das Werk „in einem Band und in einem Jahr“ vorlegen zu können.    

Bereits der erste Satz dieses vierten Bandes klärt prägnant über den „Geist“ auf, dem das Werk gehorcht: „Eine schuldbeladene Nation in einem zerstörten Haus.“ Deutsche „Schuld“ ist Stolleis‘ zentrale, in muffiger „Vergangenheitsbewältigung“ befangene Kategorie. Mit automatischer Konsequenz folgt daraus, daß die Bonner wie die Berliner Republik stets eine Volkswirtschaft auf der Suche nach einem Staat geblieben ist. Entsprechend kam der westdeutschen Staatsrechtslehre, nach Bemühungen während der Adenauer-Ära, an Weimarer Normalitäten anzuknüpfen, spätestens nach 1968 der Nationalstaat als Bezugspunkt von Forschung und Lehre abhanden.

Die BRD war mithin bestens vorbereitet, um sich nach 1990, vermeintlich wehrlos überdies im Sog der „Globalisierung“, eiligst im europäischen Superstaat aufzulösen. Womit in der subkutanen Logik des Verfassers deutsche „Schuld“  gleichwohl nicht abgegolten wäre, da die Deutschen mit der Preisgabe nationaler Existenz vom Regen moralischer Schuld-projektionen in die Traufe der, wie der Rechtshistoriker beiläufig notiert, „riskanten Solidarität“ einer handfesteren „Schuldenunion“ geraten, die sie „um des Holocaust willen“ (Thilo Sarrazin) ebenfalls klaglos zu erleiden hätten. Zumal der Begriff Souveränität, so deduziert Stolleis, zur Abgrenzung „der Sphären im Komplex des heutigen Europa“ ohnehin nicht mehr tauge, auch wenn das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in der Lissabon-Entscheidung davon noch „reichlich Gebrauch gemacht“ habe. Wenn alle Merkmale dieses Begriffes angeblich „verschlissen“ sind, dann dürften die Karlsruher Verfassungshüter bei der anstehenden europapolitischen Schicksalsentscheidung am 12. September keine Mühe haben, selbst die Reste etatistischer und nationalistischer Dogmatik endlich über Bord zu werfen.

Stolleis ist sich allerdings unsicher, ob jener Staat, den die erste Nachkriegsgarnitur der Staatsrechtslehrer (Ernst Forsthoff, Werner Weber, Ulrich Scheuner, Theodor Maunz, Günter Dürig) vehement verteidigte, nicht doch als „eigentliche Bezugsgröße und schützendes Dach für den Einzelnen“ eine Zukunft hat. Angesichts kümmerlicher Beteiligungen an Europa-Wahlen ist für ihn sogar nicht einmal ausgeschlossen, daß „nationalstaatliches Denken unter neuen definitorischen Vorzeichen“ eine Renaissance erleben könnte, wenn dies dank „europäischer und internationaler Verflechtungen“, die „keine wirklich radikale Umkehr“ erlaubten, auch „eher unwahrscheinlich“ sei.

Ungeachtet seltener Wortmeldungen vom „rechten Rand der staatsrechtlichen Szene“, wo marginalisierte Vertreter der „jüngsten Generation“ über den „Ausnahmezustand“ (Otto Depenheuer) spekulieren, sich zur „Verteidigung“ der Souveränität (Christian Hillgruber) aufraffen oder an den „vergessenen Leviathan“ (Christoph Möllers) erinnern, erwartet Stolleis zuversichtlich das nahe Säkulum „offener Staatlichkeit“, des staatsfreien „good Government“, ohne freilich zu verraten, ob die Bürger unter der Herrschaft nicht- oder überstaatlicher Mächte, anonymer „Märkte“, „Konzerne“ oder „Netzwerke“, vergleichbar humane Lebensformen finden werden wie unter dem Dach des nationalen Rechtsstaates.  

Daß in Stolleis’ Fußnotengewitter eine Reihe von Rohrkrepierern explodieren, liegt in der Natur der Sache einer solchen Materialschlacht. So fand etwa die Beisetzung Gerhart Hauptmanns nicht im schlesischen Agnetendorf statt, wo der Dichter unter polnischen Okkupanten 1946 starb, sondern auf Hiddensee. Auch hätte der 2011 verstorbene Heidelberger Völkerrechtler Karl Doehring (JF 14/11) nicht als Offizier in Rommels Afrikakorps dienen können, wäre er wirklich wie angegeben 1928 geboren worden.

Ärgerlicher als derartige Schnitzer sind viele maliziöse Seitenhiebe gegen „konservative“ oder dem linksliberalen Autor sonst weltanschaulich mißliebige Kollegen. Nur im Fall des Kölner Emeritus Martin Kriele, der sich dem „Obskurantismus“ verschrieb und der seiner Frau bei der Vermarktung „unmittelbar von Engeln“ empfangener Weisheiten behilflich ist, mag man ihm nachsehen, daß er seine dröge Prosopographie mit Spott über diesen „Geisterseher“ humorig auflockern will.

Ansonsten sind diese biographischen Partien, denen Stolleis knapp hundert Seiten gönnt, eher entbehrlich. Denn zu nichtssagend sind die kurzen Angaben, die akademische Laufbahnen und Forschungsschwerpunkte umschreiben. Stolleis ist sich dessen bewußt, da er eingangs androht, „stärkstens zu komprimieren“, um den Personalbestand, der bei den Staats- und Verwaltungsrechtlern 1949 bei 80, 1990 schon bei 357 und heute bei über 700 Dozenten liegt, in den Griff zu bekommen. Ein Reduktionismus, der den Leser frustiert. Welcher Informationswert steckt beispielsweise in der Angabe, Helmut Quaritsch habe über Ausländer- und Asylrecht wie über Staatsangehörigkeitsrecht gearbeitet? Hätte es den Speyrer Carl-Schmitt-Experten nicht schärfer charakterisiert, ihn als einen der wenigen dezidierten Kritiker des schrankenlosen westdeutschen Asylrechts und der dahinterstehenden multikulturellen Heilslehre vorzustellen?

Wäre über den von Stolleis geradezu angehimmelten Peter Häberle (Bayreuth), den peinlich ahnungslosen Doktorvater des Plagiators Karl-Theodor zu Guttenberg, nicht etwas mehr zu berichten gewesen als die Einschätzung, er sei ein „in ungewöhnlicher Weise überregional sichtbarer Hochschullehrer“? Auf eher unerwünschte Art „überregional sichtbar“ wurde Häberle durch die Causa Guttenberg zwar auch, aber erheblich bedeutsamer war er seit den Siebzigern als publizistisch agiler Europarechtler, der seine Lebensaufgabe in der Delegitimierung des Nationalstaats sah. Am Walter-Hallstein-Institut der Berliner Humboldt-Universität setzt Häberles Promovend und Habilitand Ingolf Pernice, Vertreter der Merkel-Regierung im Lissabon-Verfahren vor dem BVerfG, diese Variante „kämpferischer“ (NS-Jargon) oder „parteilicher“ (SED) Wissenschaft fort. Solche ideologischen Konditionierungen gerade der jüngsten Dozentenkohorte, die mit Beginn der Wiedervereinigung auf die Lehrstühle des öffentlichen Rechts rückte und die mit Andreas Voßkuhle derzeit den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes stellt, scheinen bei Stolleis hinter dem Gewusel von Namen und Berufungsdaten kaum schemenhaft auf.

Immerhin gehören aber auch solche Ausblendungen mitsamt den Detailfehlern und den vom illusionären Internationalismus befeuerten Werturteilen zu diesem Gesamtkunstwerk, das die Geschichte deutschen Staatsrechts nach 1945 als zwangsläufigen, durch „historische Schuld“ unvermeidlich gewordenen Abschied vom Nationalstaat inszeniert.

Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Vierter Band: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Ost und West 1945–1990. C. H. Beck, München 2012, gebunden,  720 Seiten, 68 Euro

Foto: Leere im Berliner Regierungsviertel: Die Bundesrepublik als eine Volkswirtschaft auf der Suche nach einem Staat

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen