© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/12 07. September 2012

Wisente als Wirtschaftsförderer
Im Rothaargebirge präsentieren sich demnächst wieder Europas Großrinder / Schwierige Auswilderung
Christoph Keller

Die nordamerikanischen Grasprärien waren noch im 19. Jahrhundert von Millionen Bisons bevölkert. Die Landnahme der Weißen reduzierte diese Bestände binnen einiger Jahrzehnte. Um 1900 hatten in Kanada nur wenige Tiere die Massenschlächterei überlebt. Erst heute spricht die kanadische Nationalparkbehörde mit Blick auf die 1.000 Exemplare, die verstreut über das ganze Land leben, von einer Konsolidierung. Ein Schwerpunkt staatlicher Aufzuchtprogramme liegt dabei im Westen Kanadas, im 560 Quadratkilometer großen Grasslands National Park, wo 250 Bisons die Landschaft an der Grenze zu Montana durchstreifen. Sie locken jährlich 10.000 Touristen an, die unter der Führung von Wildhütern Bekanntschaft mit den urigen Gesellen machen.

Eine ähnliche Erfolgsgeschichte schwebte wohl den Initiatoren des deutschen Wisentprojekts vor, als sie im Rothaargebirge, im südöstlichen Westfalen, darangingen, die europäischen Verwandten der Bisons auszuwildern. Anders als die kanadischen Bisonschützer können die deutschen Wisentfreunde um Jörg Tillmann (Tierärztliche Hochschule Hannover/TiHo), dem wissenschaftlichen Leiter des Unternehmens, aber nicht gerade großzügig planen.

Nur 5.000 Hektar bewaldetes Areal stehen ihnen unweit von Bad Berleburg zur Verfügung, um die sagenumwobenen Riesen, die schon in der Steinzeit die künstlerische Phantasie des Menschen beflügelten, anzusiedeln und langfristig für einen „sanften Naturtourismus“ einzuspannen. Auch insoweit folgt man dem kanadischen Modell. Wisente als Wirtschaftsförderer lassen Kommunalpolitiker und Gewerbetreibende in der strukturschwachen Region auf einen alljährlichen Zustrom von 75.000 Besuchern hoffen.

Derzeit leben, wie der Wissenschaftsjournalist Christian Jung auf seiner Wisent-Tour in Erfahrung brachte (Bild der Wissenschaft, 8/12), sieben der mannshohen und bis zu 1.000 Kilogramm schweren, Anfang des 20. Jahrhunderts nahezu ausgestorbenen europäischen Großrinder in einem Eingewöhnungsgehege, wo sie auf ihre Auswilderung warten.

Ferner stehen für ein Schaugehege ein Stier, eine Kuh und zwei Jungkühe als „touristischer Arm“ des Unternehmens bereit. In freier Wildbahn soll der Bestand auf 25, im Schaugehege, das Ende 2012 zugänglich sein soll, auf zwölf Wisente anwachsen. Förderung erfährt die Wiederansiedlung der aus verschiedenen europäischen Erhaltungszuchten stammenden Tiere durch die Bundesregierung, die 250.000 Euro der bis 2014 zu erwartenden Kosten in Höhe von etwa 1,5 Millionen Euro beisteuert, an denen sich zudem das Bundesamt für Naturschutz (BfN) und das Land Nordrhein-Westfalen beteiligen.

Ein ökologischer und ökonomischer Selbstläufer dürfte das Projekt trotz günstiger Prognosen jedoch nicht werden. Unter den Unwägbarkeiten, die Jung aufzählt, steht die „genetische Verarmung“ an erster Stelle. Denn alle 4.500 Wisente, die heute wieder in Europa leben, gehen auf den Genpool von zwölf Stammvätern und -müttern zurück, mit denen um 1910 die Neuzucht begonnen wurde. Das erhöhe die Gefahr des „negativen Durchschlagens genetischer Fehler“, wie die von Jung zitierte Warschauer Zoologin Wanda Olech-Piasecka warnt. Piaseckas Forschungen brachten zutage, daß sich bei den Stieren die Y-Chromosomen schon nicht mehr unterscheiden. Zu den Folgen derartiger Inzucht könnte ein geschwächtes Immunsystem zählen. Gut in Erinnerung sind Verheerungen, die im Sommer 2007 ein Blauzungen-Virus anrichtete, der im ostwestfälischen Gehege Hardehausen im Handumdrehen ein Drittel der Wisent-Population tötete.

Zudem muß die Begleitforschung im Rothaargebirge erst feststellen, ob eine infizierte Wisentherde den Rindern dort, wo extensive Viehhaltung das einzige Standbein der Landwirtschaft ist, gefährlich werden könnte. Das Risiko von Krankheitsübertragungen dürfte sich erst dann minimieren, wenn sich die Wisente als standorttreu erweisen, so daß Kontakte zu den Hausrindern nicht zu befürchten sein werden.

Foto: Wisent im Wildpark Pforzheim:  Ein ökonomischer Selbstläufer dürfte das Projekt jedoch nicht werden

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