© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/12 07. September 2012

Der Flaneur
Das Steingold
Nils Wegner

Auf dem Rückweg vom Einkauf, auf dem Rücken einen vollen Rucksack und in beiden Händen je ein Sechserpack Mineralwasser, stelle ich verdutzt fest, daß die Fußgänger vor mir sich genötigt sehen, auf den Radweg zu wechseln. Ein Manöver, das angesichts der „Umsichtigkeit“ der hiesigen Fahrradfahrer wirklich triftige Gründe haben muß.

Dann sehe ich ihn: Vor dem lange geschlossenen Brotladen hockt – die Jack-Wolfskin-Windjacke sorgsam unter das Knie geschoben – ein Mittfünfziger mit grauen Locken und fotografiert (natürlich per iPhone) einen Stolperstein, der in das Gehsteigpflaster eingelassen ist. Er ist hochkonzentriert, läßt sich nicht stören, hat die Brille in den zurückgewichenen Haaransatz geschoben, scheint mit verschiedenen Bildabständen und Effekten zu experimentieren.

Daß er den Gehweg blockiert, merkt er nicht. Es scheint ihm auch gar nicht in den Sinn zu kommen, daß er vielleicht jemanden stören könnte, wie er da auf seinem Ansitz thront. Die Passanten, die notgedrungen einen Bogen um ihn schlagen, beachten ihn größtenteils nicht einmal. Nur gelegentlich rutschen Mundwinkel nach unten; der eine oder andere flucht vielleicht leise in sich hinein.

Da ich ohnehin links abbiegen muß, um eine Abkürzung über einige Hinterhöfe zu nehmen, trete ich zur Seite aus dem Bürgerstrom heraus, setze meine Wasserflaschen ab und schaue dem eifrigen Fotografen zu. Warum er das wohl tut? Sind auf dem Messingplättchen Verwandte verewigt? Oder hat Bundesstolpersteiniger Gunter Demnig ihn angestellt, um ab und an die Bestände zu dokumentieren? Eine Art Ein-Euro-Job für gelernte Bewältiger?

Bei dem Gedanken muß ich grinsen. Das scheint der graue Herr gespürt zu haben: Er schaut auf, erspäht mich und schießt mir einen wütenden Blick zu und bewegt die Lippen. Ich rolle mit den Augen und trolle mich mit meinem Wasser; manchmal lohnt es sich eben, Musik auf den Ohren zu haben.