© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/12 14. September 2012

Die deutsche Selbstverleugnung
Flucht vor dem Eigenen
Jost Bauch

Es ärgert mich, daß sie, die sich nichts vorzuwerfen haben, ausweichen auf andere Länder, daß sie so leise sind und sich als Deutsche selber nicht nennen.“ (Herta Müller)

Was heißt heute deutsch? Allein schon die Frage wird als eine Art Provokation empfunden, so etwas fragt man doch nicht mehr im Zeitalter des Globalismus, wo die nationalen Grenzen verschwimmen. Die Frage an sich erscheint rückwärtsgewandt, öffnet die Büchse der Pandora des schwindenden Nationalismus, so denkt jedenfalls der One-World-Enthusiast, der ja hierzulande zum politischen Mainstream gehört.

Und schon sind wir mittendrin in der Thematik, was denn heute deutsch sein könnte. Typisch deutsch ist heute die Selbstverleugnung des Deutschen. Das typisch Deutsche ist nur in der Form der Distanzierung, sozusagen ex negativo, zu haben. Der Deutsche will eigentlich gar nicht mehr deutsch sein, er ist vor sich selbst auf der Flucht, er fühlt sich als Europäer, taucht in fremde Kulturen ein, wenn er auf Reisen geht und holt sich die Fremde als multikulturelle Bereicherung massenhaft ins eigene Land.

Provokant formuliert: Deutsch ist das, was Deutschland heute zunehmend nicht ist, nicht sein will und nicht sein darf! Das hat mit der teleologischen Geschichtsauffassung der heutigen Interpretation von deutscher Geschichte zu tun. Denn alles, was die Deutschen hervorgebracht haben, lief auf Hitler hinaus. Selbst die besten Leistungen „deutschen Geistes“ waren auf sublime Weise Wegbereiter des nationalsozialistischen Terrors.

Sei es Goethes und Schillers deutscher Sonderweg der Kulturnation, sei es Kants Pflichtethos oder Hegels Staatsapotheose, letztendlich sind dies in der „antifaschistischen“ Beurteilung alles Bausteine des Hitlerismus. Danach stellt Hitler den Kulminationspunkt deutscher Geschichte dar. Die Deutschen bestehen aus Vorläufern und aus Erben dieser nationalgeschichtlichen Katastrophe, aus diesem hermetisch geschlossenen Kreis kommt der Deutsche nicht heraus. Ihm bleibt also nur die Flucht vor sich selbst.

Ist es schon paradox, vor sich selbst flüchten zu wollen, weil man sich in der Flucht immer mitschleppt, so wird diese Paradoxie noch potenziert, weil diese Absetzbewegung vor sich selbst wiederum typisch deutsch ist. Die deutsche Geschichte ist voll von Selbstdistanzierungen, wenn sie auch nicht das heutige Ausmaß jeweils erreicht haben. Napoleon urteilte über die Deutschen: „Es gibt kein gutmütigeres, aber auch kein leichtgläubigeres Volk als das deutsche. Keine Lüge kann grob genug ersonnen werden – die Deutschen glauben sie. Um einer Parole willen, die man ihnen gab, verfolgen sie ihre Landsleute mit größerer Energie als ihre wirklichen Feinde.“

Wenn die Flucht vor sich selbst typisch deutsch ist, dann müssen in der Fluchtbewegung Eigenschaften zum Vorschein kommen, die als typisch deutsch bezeichnet werden können. Am erstrebten rettenden Ufer der Absetzbewegung müssen wiederum typisch deutsche Verhaltensmuster und Attitüden liegen. Beispielhaft dafür sind die „Grünen“, die alles Nationale verbal verwerfen und doch als Vertreter des „deutschen Volksgeistes“ (Herder) erscheinen in ihrer ideologischen Melange von altgermanischer Naturverherrlichung und protestantischem Pfarrhaus.

Ausdruck bürgerlich-deutscher Melancholie, so Wolf Lepenies, ist der Weg in die Innerlichkeit oder Natur, und Friedmar Apel vermerkt in seinem lesenswerten Buch „Deutscher Geist und deutsche Landschaft“, daß der Franzose bei Handlungsblockaden in den Salon geht oder eine Revolution anzettelt, wohingegen der Deutsche ins Grüne geht. In der Absetzbewegung lebt der „deutsche Geist“ weiter, ohne daß sich die Akteure darüber im klaren sein müssen. Man kann eben nicht einfach aus seiner Haut schlüpfen. Nationalcharaktere sind hartnäckiger als man glaubt, und Nationen sind mehr als „Lesegemeinschaften“, wie Peter Sloterdijk anmerkte.

So kann man auf die Reise gehen und die deutsche Seele und ihre Ingredienzien ergründen, um das typisch Deutsche zu identifizieren. Thea Dorn und Richard Wagner haben dies getan und können ihre Sympathie für das Deutsche gerade wegen ihres nüchternen Blickes nicht verbergen. Es ist dabei nicht so, daß die Eigenschaften, auf die sie gestoßen sind, bei anderen Völkern nicht vorfindlich sind, sie sind bei den Deutschen aber in besonderer Weise ausgeprägt. Dabei stößt man auf typisch deutsche Gegenstände, Tätigkeiten und innere Haltungen. So gehören zu den typisch deutschen Gegenständen der Strandkorb, die Wurst, das Butterbrot, das Mittelgebirge, das Mutterkreuz, die Sandburg, das Pfarrhaus, der Schrebergarten und der Weihnachtsmarkt.

Zu den absonderlichen deutschen Tätigkeiten gehört das Spazierengehen, das Singen im Männerchor, das Autowaschen am Samstag, zu den inneren Haltungen gehört der Fleiß, die Ordnungsliebe, die Treue, das Ehrgefühl, die Genauigkeit, aber auch negativ konnotierte Haltungen wie die Subalternität, Autoritätsgläubigkeit, Kleinkariertheit und ein Schwanken zwischen Großmannssucht und Defätismus. Neben der profanen Tugend, eine Sache perfekt zu machen, entdecken Thea Dorn und Richard Wagner auch die mystische Seite des Deutschen, seinen Hang zur Romantik, seinen Antiintellektualismus und Antirationalismus mit guten und auch abgründigen Seiten.

Besondere Bedeutung bei den „deutschen Tugenden“ hat der Fleiß, bei Thea Dorn auch „Arbeitswut“ genannt. Bereits 1916 stellte der Philosoph und Soziologe Max Scheler in seinem Vortrag „Die Ursachen des Deutschenhasses“ fest, daß der welthistorische Emporkömmling die meistgehaßte Nation gewesen sei, weil er mit seiner Arbeitswut die anderen Nationen aus ihren jeweiligen Paradiesen vertrieben habe. Bewunderung paarte sich mit Furcht, und der Tüchtigste ist nun mal nicht der Beliebteste. Der Mechanismus wirkt bis heute: Deutsche Geldzahlungen an Griechenland werden mit Nazi-Vorwürfen quittiert und die EU-Bürokratie fordert, der Deutsche möge doch bitte mehr konsumieren und weniger produzieren.

Haben andere Völker ein instrumentelles Verhältnis zur Arbeit, die dazu da ist, um bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen, womit sich der Zweck der Arbeit dann erledigt hat, so gilt für den Deutschen das Kantsche Ideal des „ewigen Strebens“. Hier zeigt sich die protestantische Seite der „deutschen Seele“, die Arbeitsmobilmachung der Deutschen erfolgte wesentlich über den schwäbischen Pietismus, weil sich die Gnade Gottes nur durch einen durch Arbeit strukturierten Lebenswandel erreichen ließ.

Doch diese Tugenden sind eigentlich Geschichte. Zur Selbstflucht der Deutschen gehört es, daß ihre Tugenden als „Sekundärtugenden“ herabgesetzt werden, Tugenden, wie Oskar Lafontaine anmerkte, die auch zur Führung eines Konzentrationslagers sinnvoll sind. So werden in den Schulen die Kopfnoten abgeschafft, und der neue Narziß der Moderne kalkuliert seinen Auftritt in der Öffentlichkeit und Arbeitswelt rein nach Utilitätsgesichtspunkten.

Aus der Hingabe an die Sache – eine Sache um ihrer selbst willen zu tun – wird zunehmend die Hingabe, „sich selbst zu verwirklichen“, das „sakrale Ich“ (Peter Gross) hat schon lange Einzug in die deutschen Charaktere gehalten. Nicht, daß die alten Tugenden endgültig verschwunden sind, sie scheinen immer noch in Teilen der Bevölkerung auf (insbesondere in der bürgerlich-handwerklichen Mittelschicht), aber sie sind auf dem Rückzug und werden durch den modernen Hedonismus amerikanischer Prägung ersetzt.

Die deutsche Seele ist nicht zu ergründen ohne Berücksichtigung der deutschen Topographie. Die Zentrallage in Europa – ohne natürliche Grenzen und mit einer Vielzahl von Nachbarn – haben die politische Einigung und Identitätsbildung der Deutschen immer erschwert. Der lange Zeit nicht geglückte politische Autonomiegewinn ließ in Deutschland einen Provinzialismus mit ausgeprägter Landschaftsgebundenheit und Verbundenheit entstehen, die Heimat war immer da, die Nation kam erst spät.

So ist es nicht verwunderlich, daß in der ästhetischen Landschaftserfahrung von Dichtern und Denkern ein Autonomiegewinn des Subjekts als Gegenentwurf zur durchrationalisierten Welt gesucht wurde. Die deutsche Romantik gibt Zeugnis davon.

Beispielhaft seien die Gedichte von Clemens Brentano genannt, wo die Landschaft „zum Gegenbild eines gefühlskalten, von Vernunft beschädigten Lebens wird, an dem das Glücksverlangen des Subjekts zuschanden geht“ (Friedmar Apel). Wilhelm Dilthey hat die deutsche „Musterlandschaft“ beschrieben: Milde Hügel, sanfte Täler, „da entsteht aus diesem Lagegefühl ein mildes befreundetes Verhältnis zur Natur – Geborgensein, heimliches Sich-Anschmiegen an Tal, Fluß und Hügel und doch Sich-Fortsehnen in die schimmernde Ferne“. Selbst Theodor Adorno, dem jede Deutschtümelei fremd war, sehnte sich besonders während seines amerikanischen Exils nach den Hügeln des heimatlichen Amorbach, das in ihm eine ästhetische Erfahrung weckte gegen die verdinglichte Gesellschaft „als Erinnerungsspur der Freiheit in der Geborgenheit einer zugewandten Welt“.

Die Selbstflucht der Deutschen zerstört auch zunehmend dieses intime Verhältnis zur Landschaft. Die Landschaft wird vollends zur Nutzfläche. In Nordfriesland gibt es mittlerweile keine Region, die nicht von Windrädern durchsetzt und umstellt ist. Das Gesamtbild der Landschaft wird zerstört, die friesisch vorherrschende Horizontale wird durch vertikale Schnitte zerstückelt. Landschaft als Vorlage für Erfahrungskonstitution hat ausgedient. Nach Herta Müller korrespondiert eine aufgelöste und zerschnittene Landschaft dem Schlachthaus des totalitären Staates.

Was bleibt angesichts der weiter fortschreitenden Marginalisierung des Deutschen und der Rückstufung des Deutschen zu einem Regionaldialekt? Deutsch wird im Rahmen des Globalismus zu einem Label, das man wählt zur Identitätsausstattung, das man aber jederzeit wechseln kann wie die Designerwäsche. Das Ganze hat nichts mehr mit Charaktereigenschaften und Verhaltens-typisierungen zu tun; die Nation wird zur leeren Hülse und zur Verpackung von Identitäten, die sich die Individuen in den internationalisierten Medien holen, allenthalben brauchbar für einen kommerzialisierten Event-Patriotismus. Diese Entwicklung trifft natürlich auch andere Nationen, nur sind wir Deutsche mit dieser Form der Trivialisierung der Nation mal wieder Vorreiter.

 

Prof. Dr. Jost Bauch, Jahrgang 1949, lehrt Medizinsoziologie in Konstanz und ist Vizepräsident des Studienzentrums Weikersheim. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Links-Rechts-Begriffswirrwarr („Der verfälschte Code, JF 19/12“).

Jost Bauch: Der Niedergang. Deutschland in der globalisierten Welt. Schriften wider den Zeitgeist, Ares Verlag, Graz 2010. Das Buch fragt nach dem Überleben einer Nation im globalen Zeitalter, beschreibt Problemlagen und Gegenstrategien.

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