© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/12 14. September 2012

Deutscher Mythos mit Charakterkopf
Streit um den „Retter von Ostpreußen“ und Reichspräsidenten Paul von Hindenburg: Der Monarchist, der an der Verteidigung der Republik scheiterte
Thorsten Hinz

Im Frühjahr 1932 kandidiert Reichspräsident Paul von Hindenburg für eine zweite Amtsperiode. Der 85jährige wird unterstützt von den Sozialdemokraten, dem katholischen Zentrum und den zersprengten Liberalen. Für die Anhänger der Weimarer Republik ist der greise Generalfeldmarschall, den sie bei seiner ersten Kandidatur 1925 unbedingt verhindern wollten, zur letzten Hoffnung geworden. „Schlagt Hitler, wählt Hindenburg!“ lautet ihre Losung.

Sein Gegenkandidat Adolf Hitler kann sich neben der NSDAP auf die republikfeindlichen Kräfte stützen, die 1925 Hindenburg auf den Schild gehoben hatten. Die Kommunisten verkünden: „Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler. Wer Hitler wählt, wählt den Krieg!“ Und tatsächlich: Zehn Monate nach seiner Wiederwahl ernennt Hindenburg Hitler zum Reichskanzler. Das Foto vom 21. März 1933, dem „Tag von Potsdam“, das den Händedruck zwischen Präsident und Kanzler vor der Garnisonkirche festgehalten hat, scheint Hindenburgs Rolle als Wegbereiter des Diktators zu beweisen. Doch wie falsch ist diese kommunistische Wahrheit!

Hindenburg wird 1847 in Posen als Sohn einer altpreußischen Adelsfamilie geboren. Nach dem kurzen Besuch des Gymnasiums schlägt der zwölfjährige Hindenburg die typische entbehrungsreiche Jugendlaufbahn künftiger preußischer Offiziere an: Kadettenanstalt Wahlstatt in Niederschlesien, danach in die Hauptkadettenanstalt nach Berlin. 1866 wird der junge Leutnant bei Königgrätz verwundet, 1870/71 nimmt er am Deutsch-Französischen Krieg teil und erlebt am 18. Januar 1871 die Kaiserproklamation im Schloß von Versailles. Seine militärische Karriere verläuft geradlinig und unspektakulär. 1903 hat er als Kommandeur des Vierten Armeekorps in Magdeburg den absehbaren Höhepunkt erreicht. 1911 nimmt er im Rang eines Generals der Infanterie seinen Abschied. Eine beschauliche Pensionärsexistenz liegt vor ihm.

Der Kriegsausbruch 1914 aber ändert alles. Der 67jährige meldet sich umgehend beim Großen Generalstab als Kriegsfreiwilliger. Er wird an die Ostfront entsandt, wo sich eine Katastrophe anbahnt. Die Planungen sehen vor, mit versammelter Kraft zunächst Frankreich einen vernichtenden Schlag zu versetzen. Dafür muß die östliche Flanke des Reiches entblößt werden. Weil die Russen ihre Kräfte schneller als erwartet mobilisieren und die Führung der 8. Armee, die Ostpreußen schützen soll, die Nerven verliert und sich fast kampflos zurückzieht, ist nahezu ganz Ostpreußen verlorengegangen. Hindenburg wird zum neuen Kommandeur ernannt und Erich Ludendorff ihm als Stabschef zur Seite gestellt. Am 28. August 1914 gelingt ihnen ein vernichtender Sieg gegen die russische Übermacht. Den entscheidenden Anteil an den Planungen hatten allerdings Ludendorff und Oberstleutnant Max Hoffmann, der schon vor Ankunft der beiden Generäle entscheidende Dispositionen getroffen hatte.

Die Operation wird propagandistisch als „Schlacht von Tannenberg“ verwertet. Jedes deutsche Schulkind weiß, daß der Deutsche Ritterorden 1410 in Tannenberg (für die Polen: Grunwald) gegen die litauische und polnische Armee eine Niederlage erlitten hat. Der Sieg über die russische Armee löscht sie aus und begründet einen neuen Mythos. Hindenburg und Ludendorff sind Teil von ihm und werden darüber selber zu mythischen Figuren.

Vor allem gilt das für Hindenburg. Seine hohe und zugleich massige Erscheinung, der quadratische Schädel, der kantige Bürstenhaarschnitt, der Schnurrbart sowie sein würdiges Auftreten machen den „Sieger von Tannenberg“ zur idealen Projektionsfigur. Zu seinen Prinzipien gehört, daß er gleich nach dem Sieg seine Soldaten und Offiziere zu einer Haltung auffordert, „die in dem gefangenen Gegner den gewesenen Feind vergißt“.

Hindenburg wird zum bismarckgleichen, eisernen Titanen, an dem sich die Stimmung aufrichtet. Es werden Hindenburg-Denkmale und Türme gebaut, Hindenburg-Eichen gepflanzt, Plätze, Straßen, Liköre, Zigarren und eine Stadt in Oberschlesien (Zabrze) nach ihm benannt. Im Sommer 1915 wird in Berlin vor der Siegessäule eine überlebensgroße hölzerne Hindenburg-Figur errichtet, in die einen Nagel einschlagen darf, wer eine Kriegsspende geleistet hat. 1916 wird er gemeinsam mit Ludendorff an die Spitze der Obersten Heeresleitung berufen. Ein neues Mobilisierungsprogramm trägt seinen Namen.

Es ist unschön, daß er 1919 vor einem Ausschuß der Nationalversammlung behauptet: „Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden.“ In seinen Memoiren ein Jahr später liest es sich schon anders: „Wie Siegfried unter dem hinterlistigen Speerwurf des grimmen Hagen, so stürzte unsere ermattete Front; vergebens hatte sie versucht, aus dem versiegenden Quell der heimatlichen Kraft neues Leben zu trinken.“ Unter der Hand gibt Hindenburg sein besseres Wissen zu: Volk und Armee waren nach vier Jahren Krieg mit ihren Kräften am Ende.

Als Reichspräsident Friedrich Ebert 1925 stirbt, einigt sich die Rechte für den zweiten Wahlgang auf Hindenburg. Er ist so ehrlich zu erklären, daß er Monarchist sei und das auf seine alten Tage auch bleiben werde. Aber gerade die monarchische Überzeugung verpflichtet ihn zur Loyalität. Er hat nicht danach zu fragen, ob die Republik gut ist oder schlecht. Sie ist nun einmal da, und wenn sie ihn zu ihrem Präsidenten wählt, dann wird er gemäß seinem Eid, der ihm heilig ist, ihr oberster Hüter sein! Bald konstatieren die Republikaner, daß der Glanz des Hindenburg-Mythos auf ihr malades Staatswesen abstrahlt. Und die Monarchisten sind zufrieden, daß einer der Ihren an der Spitze steht, weshalb die Republik so schlecht wohl nicht sein kann. Erneut wird Hindenburg zur Integrationsfigur. In die operative Politik mischt er sich kaum ein, sondern hält sich strikt an das politische Primat von Regierung, Reichstag und Parteien.

Doch genau dieses Primat entwickelt sich zum zentralen Problem. Die Parteien sind der Verantwortung, die ihnen die Verfassung überträgt, nicht gewachsen. Selbst in den relativ stabilen Jahren zwischen 1924 und 1929, die auch die „Goldenen 20er“ genannt werden, kann von ruhiger Regierungsarbeit keine Rede sein. Kanzler Hermann Müller (SPD) bringt 1928 keine reguläre Koalition mehr zustande, weil die beteiligten Parteien darauf bestehen, lediglich Politiker ihres Vertrauens in die Regierung zu entsenden. Im übrigen agieren sie wie Oppositionsparteien. Auch der Zentrumsmann Heinrich Brüning, der 1930 die Kanzlerschaft übernimmt, bleibt ohne parlamentarische Mehrheit. Der Ausweg ist eine Präsidialregierung, die sich allein auf das Vertrauen des Staatsoberhaupts stützt und mit Notverordnungen regiert, die Hindenburg in Kraft setzt. Damit agiert Brüning am Rande der Legalität und Hindenburg mit ihm. Der leidet darunter. Bei den Reichstagswahlen 1932 holen NSDAP und KPD zusammen über 50 Prozent der Stimmen. Rechnet man die Deutschnationalen hinzu, dann haben nahezu 60 Prozent der Wähler, zermürbt von Inflation, Weltwirtschaftskrise, den Versailler Zumutungen, aber auch vom fruchtlosen Parteienstreit der Weimarer Republik den Abschied gegeben.

Deren letzter Halt ist – was für eine Ironie der Geschichte – der kaiserliche Feldmarschall. Dem ist Hitler unheimlich, instinktiv erfaßt er des „böhmischen Gefreiten“ Abgründe. „Herr Hitler, ich lasse schießen!“, soll er gesagt haben, als der von ihm ungestüm die Übergabe der Regierungsgewalt verlangt. Was aber kann er tun? Manche raten, die Verfassung außer Kraft zu setzen, den Reichstag und die Parteien zu suspendieren, die NSDAP, KPD und angeschlossene Organisationen zu verbieten, die Reichswehr einzusetzen, die Legalität zugunsten der Legitimität vorübergehend aufzuheben. Das aber wäre der Eid- und Verfassungsbruch, die der legalistische Hindenburg wie eine Todsünde fürchtet.

Als Hitler ihm die Aussicht auf eine Mehrheitskoalition und damit die – vordergründige – Rückkehr zur Verfassungskonformität offeriert, schmilzt sein Widerstand dahin. Es ist eine schauerliche wie verquere Dialektik: Aus Treue zur republikanischen Verfassung beruft der altpreußische Monarchist den Führer einer totalitären Massenbewegung an die Spitze der Regierung. Was dann kommt, ist eine andere Geschichte.

Foto: Paul von Hindenburg als Generalfeldmarschall 1914; Reichspräsident Hindenburg mit dem preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun (SPD) am Deutschen Eck, Koblenz 1930: „Herr Hitler, ich lasse schießen!“

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