© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/12 14. September 2012

Handgemacht und grundsolide
Ohne Hierarchien und feste Rituale können auch Festivals wie Wacken Open Air, Rock am Ring & Co. nicht überleben
Toni Roidl

Viele junge Leute zieht es im Sommer in die Provinz. Statt Berlin oder Hamburg besuchen sie Scheeßel an der Wümme oder Lüdinghausen im Münsterland. Der Grund ist aber nicht die ländliche Stille, sondern das Gegenteil. Sie wollen Getöse. Von der Nordsee bis zum Chiemsee bieten Dutzende Festivals jedem Fan die volle Packung seiner Lieblingsmusik. Stille Wiesen verwandeln sich in Wallensteinsche Heerlager von Rock- oder Reggae-Anhängern.

Und sie kommen in Scharen. Die holsteinische 2.000-Seelen-Gemeinde Wacken wird einmal im Jahr von einer 40fachen Übermacht Schwarzgekleideter gestürmt. Es herrscht Ausnahmezustand. Zum Frühstück, Mittagessen und Abendbrot gibt’s kalte Dosenravioli mit Bier, geduscht wird mit dem Felgenreiniger der Autowaschanlage und geschlafen einfach gar nicht. Archaische Rituale spielen sich ab: Pärchen beim Schlammringen, Jungs bei Trinkspielen, die der Waterboarding-Folter ähneln, und die „Wall of Death“ (Mauer des Todes). Dabei bilden die Besucher zwei Fronten und rennen martialisch brüllend aufeinander zu wie prähistorische Krieger. Wer den Zusammenprall überlebt, hat aber noch den Besuch eines tagelang benutzten Dixiklos zu bestehen.

Damit die Festivalsaison nicht allzu viele Opfer fordert, hat der Autor Oliver Uschmann im Münchner Heyne-Verlag den Ratgeber „Überleben auf Festivals“ (2012) veröffentlicht. Darin beschreibt der Musikjournalist die Charakteristika der unterschiedlichen Typen von Besuchern und Künstlern. Zum Beispiel erklärt er, daß Rockfans überraschend konservativ sind. Sie legen höchsten Wert auf „handgemachte“ Musik. Ihre Lieblingsworte zur Auszeichnung geschätzter Künstler sind „ehrlich“ und „grundsolide“. Dabei sind sie auch tolerant. Ihre Anerkennung kann grundsätzlich jeder erlangen, der den Nachweis grundsolider Arbeit liefert: „Das amtliche Brett!“ Das amtliche Brett ist sozusagen Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitserlaubnis für das Rockreich.

Uschmann beschreibt soziologisch interessante Phänomene. Wenn die Besucher auf das Festivalgelände strömen, bilden sich nach seiner Beobachtung automatisch abgegrenzte Siedlungen sozial gleichrangiger Gruppen: Die „Villenviertel“ der Wohnmobile, die Mittelschicht-Gegenden der Zwei-Mann-Iglus und die Slums der schiefen Einerzelte. Die klassenlose Gesellschaft? Fehlanzeige. Und dennoch bleiben die Veranstaltungen erstaunlich friedlich dafür, daß Zehntausende junger Leute, Alkohol, Sonne und laute Musik zusammenwirken. Der Ausländeranteil des Publikums entfällt überwiegend auf Skandinavier.

Für die Gemeinden in strukturarmen Regionen sind die Festivals ein echter Wirtschaftsfaktor. In Wacken profitieren die Einwohner im Pro-Kopf-Durchschnitt mit über 4.000 Euro von der Veranstaltung. Sie sind nicht die einzigen, die profitieren: Pfandsammler Eduard Lüning lebt vom Dosenpfand, das er von April bis September auf deutschen Festivals aufhebt. In einer Saison sammelt er etwa fünfzigtausend Dosen und kommt damit auf einen Verdienst von knapp 13.000 Euro. Wie das funktioniert, hat er in seinem Buch „Mit Dosenpfand zum Wohnmobil“ (2011) geschildert.

Der demographische Wandel macht auch vor Open-Air-Konzerten nicht halt. Die Zuschauer werden zunehmend älter. „Senioren“ haben andere Bedürfnisse als 20jährige „Partypeople“. Sie wollen nachts ein Auge zumachen können, wünschen sich eine müllfreie Umgebung und zumutbare Sanitäranlagen. Die Veranstalter reagieren darauf mit „Green Camping“-Bereichen. Hier herrscht Mülltrennung und ein Verbot wattstarker Musikanlagen. Das Angebot wird bestens angenommen, bei Rock am Ring und Hurricane waren die sauberen und leisen Öko-Camping-Bereiche schnell ausgebucht. Doch die Anpassung an die Wünsche der Ü30-Besucher sorgt auch für einen Generationenkonflikt. Die Jugend rebelliert und fürchtet um das geliebte Flair von Chaos, Krach und Kotze. Festivalbesucher, die anhand des grünen Armbändchens als Greencamper identifiziert wurden, berichten von Pöbeleien und Böllern, die nachts in die abgetrennten Ruhebereiche flogen. Das Rockfestival ist eben ein komprimiertes Gesellschaftsbild.

Foto: Amtliche Bretter und wiederkehrende Rituale: Vor der Bühne geht es weniger anarchisch und chaotisch zu, als Außenstehende glauben

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