© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/12 21. September 2012

Eine Krankenkasse am Pranger
Lebensschutz: Auf Betreiben von Pro Familia wurde die Kooperation einer Betriebskrankenkasse mit einer Lebensschutzorganisation beendet / Eine Spurensuche
Martina Kempf

Für Menschen, die die Tötung von jährlich mindestens 110.000 ungeborenen Babys in Deutschland verhindern wollen, stellt sich seit langem das Problem, daß sie gezwungen sind, die sogenannten „Schwangerschaftsabbrüche“ in der gesetzlichen Krankenkasse durch ihre eigenen Beiträge mitzufinanzieren.

Unter einem Gewissenskonflikt litt nicht zuletzt der Versicherungsangestellte Wolfgang Treuter, der die jeweiligen Versicherungszusagen einer Abtreibung unterzeichnen mußte. In Zusammenarbeit mit der Betriebskrankenkasse Industrie, Handel und Versicherungen (BKK IHV) ging er mit der Lebensschutzorganisation ProLife Deutschland einen neuen Weg, indem dessen Mitglieder freiwillig auf Abtreibung verzichteten und dafür familienfördernde Leistungen erhielten – etwa ein Willkommensgeld für jedes neugeborene Kind. Auch eine Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen war geplant, um Schwangeren in Not Beratung und Hilfe zukommen zu lassen.

Optimistisch blickte ProLife in die Zukunft: „Durch den solidarischen Verzicht aller Mitglieder setzt ProLife ein unübersehbares Signal in unserer Gesellschaft und macht deutlich, daß der Schutz ungeborener Kinder keine Privatsache ist.“ Doch der Optimismus wurde nicht überall geteilt. Vor allem der mit Mitteln des Bundes, der Länder und Kommunen öffentlich geförderten Beratungsorganisation Pro Familia – Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung e. V., war die Regelung ein Dorn im Auge.

Mit Schreiben vom 11. Januar 2012 an den Dachverband Gesetzliche Krankenkassen (GKV) und an verschiedene Bundesministerien wandte sie sich gegen die Kooperation der BKK IHV mit ProLife. Pro Familia kritisierte die „einseitig ideologische Ausrichtung“ der BKK IHV.

Im Februar schlossen sich Leitmedien wie der Spiegel an, der unter dem Titel „Heilige Allianz – Eine Wiesbadener Krankenkasse profiliert sich als Sammelbecken fundamentalistischer Christen“ verkündete, daß die „spezielle Kooperation“ der BKK IHV die „Bonner Beamten“ im Bundesversicherungsamt (BVA) „überfordere“. Kurz darauf übernahm die Aufsichtsbehörde der Krankenkasse die Argumentation, daß die Kooperation der BKK IHV mit der Lebensrechtsorganisation gegen die weltanschauliche Neutralität verstoße und drohte mit juristischen Konsequenzen.

Doch ist nicht die Schutzpflicht des Staates für das ungeborene menschliche Leben im Grundgesetz verankert? Stellte nicht das Bundesverfassungsgericht als höchstes deutsches Gericht in seinem Urteil vom 28. Mai 1993 in seinem 1. Leitsatz fest: „Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, menschliches Leben, auch des ungeborenen, zu schützen“ (BVerfGE 88, 203 ff.)?

Gerade diesem verfassungsrechtlichen Auftrag zum Schutz des ungeborenen Lebens fühlte sich ProLife in seiner Kooperation mit der BKK IHV verpflichtet. Lebensschützer, etwa der Bundesarbeitskreis Lebensrecht und Familie der AUF-Partei (Christen für Deutschland) sprangen ihnen bei und erklärten, daß das Grundgesetz in diesem Kontext gerade nicht neutral, sondern eindeutig für den Schutz des Lebens aller Bürger, auch der ungeborenen und damit gegen Abtreibung sei.

Pro Familia und BVA bewerteten die verfassungsrechtliche Schutzpflicht des Staates auf dem Gebiet des Lebensschutzes konträr. Pro Familia setzte noch eins drauf und ließ verlauten, daß die Entscheidung für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch dem „Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Frau“ unterliege sowie die gesetzliche Beratung dazu „ergebnisoffen“ zu erfolgen habe. Doch wo ist im Grundgesetz ein „Abtreibungsrecht“ als Selbstbestimmungsrecht erwähnt, wie es Pro Familia proklamiert?

Flankiert wurde der Kampf gegen die Kooperation von ProLife Deutschland mit der Betriebskrankenkasse BKK IHV schließlich durch die Ankündigung einer Protestaktion vor der „Krankenkasse der Abtreibungsgegner_innen“ in Wiesbaden für den 21. Juli 2012. Zusammengefunden hatte sich ein „Aktionsbündnis FRAUENgeRECHTE Krankenkasse“, das sich beim Thema „Frauenrecht auf selbstbestimmte Mutterschaft“ auf der Seite von „Pro Familia, Terres des Femmes, der AG Sexuelle Selbstbestimmung, dem Bundesverband der Frauengesundheitszentren sowie von humanistischen Vereinigungen wie der Guardini Bruno Stiftung und integren Politiker_innen“ verortete.

Dem anonymen Flugblatt des Aktionsbündnisses zufolge hätten die „sogenannten ‘Lebensschützer_innen’ erstmals eine „staatliche Behörde in ihre Gewalt gebracht“. Polemisch wurde, ein tatsächlich nicht existierendes Recht auf Ungeborenentötung als „Grundrecht“ ausgebend, gefragt: „Ist die Übernahme der BKK IHV durch Abtreibungsgegner_innen ein Rückzug frommer Betschwestern und völkischer Burschen in ihre kleine, heile Welt, wo sie wenigstens keinen Schaden mehr anrichten können? Oder nicht doch ein Vorstoß zum Kreuzzug gegen das Frauenrecht auf selbstbestimmte Mutterschaft?“

Parallel dazu wurde der „greise“ Kardinal Meisner aus Köln als sich profilierender „Rädelsführer“ charakterisiert sowie ProLife-Kuratoriumsmitglieder und andere „DrahtzieherInnen“ namentlich an den Pranger gestellt und mit Häme übergossen: so Gerd Josef Weisensee („Sehnt sich eine patriarchale Gesellschaft zurück“), Alexandra Maria Linder („Hält vor Schulklassen Vorträge gegen Abtreibung“) oder Holm Schneider („Hält Homosexualität für eine heilbare Krankheit. Sucht nach dem Beweis, daß ein Zellhaufen mehr als nur ein Zellhaufen sei).“

Dem aufgebauten Druck von seiten Pro Familias, der Medien, des breitgefächerten „Aktionsbündnisses“ und des Bundesversicherungsamtes hielt die BKK IHV nicht stand. Am 21. Juni beendete der Verwaltungsrat die Kooperation mit ProLife. Begründet wurde der schwere Schritt seitens der BKK damit, daß das für die Rechtsaufsicht zuständige Bundesversicherungsamt (BVA) die Auffassung vertritt, der Kooperationsvertrag verstoße gegen verschiedene Rechtsvorschriften. Zudem, so die BKK, habe das BVA in Aussicht gestellt, juristisch gegen die Kooperation vorzugehen.

Da aber die BKK IHV als Körperschaft des öffentlichen Rechts verpflichtet sei, „gesetzliche Vorgaben und Hinweise der Aufsichtsbehörden zu beachten“, hätten die Mitglieder des Verwaltungsrates „keine Möglichkeit“ mehr gesehen, die Kooperation fortzuführen. Der Versicherungsschutz der Kunden, welche durch Empfehlung von ProLife Deutschland Mitglied der BKK IHV geworden seien, würde durch diese Entscheidung jedoch „nicht beeinträchtigt“.

„Widerstand gegen ProLife erfolgreich“, jubelte daraufhin der Humanistische Pressedienst, „offensichtlich“ hätten „die selbsternannten ‘Lebensschützer/innen’ nicht damit gerechnet, daß sich erheblicher Widerstand gegen ihr Treiben in der Betriebskrankenkasse IHV formiert“.

 

Martina Kempf ist Juristin und Autorin des Buches „Frauenfeindlich – Wie Frauen zur Ungeborenentötung gedrängt werden“ mit vielen wahren Lebensschicksalen Betroffener und Studien, Gerhard-Hess-Verlag 2012

www.prolife-deutschland-neu.de

 

Pro Familia – Netzwerker in eigener Sache

Pro Familia, im Jahr 1952 gegründet, sieht sich als Vorkämpferin für Sexualaufklärung. Explizit tritt Pro Familia unter anderem für eine sexuelle Kultur ein, in der sich „unterschiedliche sexuelle und partnerschaftliche Lebensweisen entwickeln können“, in der die „Irrationalität von Sexualität anerkannt und auch als kulturelle Bereicherung“ gesehen werden und in der „sexuelle Selbstbestimmung und damit auch Bestimmung über die eigene Fruchtbarkeit als wesentliches Merkmal sozialer Kompetenz“ gelten. Vor diesem Hintergrund bietet die öffentlich geförderte Organisation Beratungen zur Familienplanung und Schwangerschaft an. In einigen ihrer 160 Zentren werden zudem ambulante Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen. Dies und der Umstand, daß Pro Familia stets von einem Recht auf Abtreibung ausgeht, das einem Recht des ungeborenen Kindes auf Leben entgegensteht, wird von Lebensschützern kritisiert. Sie werten die Grundeinstellung Pro Familias zum Schutz des Lebens als unzureichend und verweisen in diesem Zusammenhang auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 88, 286/287). Dieses, so die Pro-Familia-Kritiker, verlange eindeutig, daß „der Staat nur solchen Einrichtungen die Beratung anvertrauen darf, die nach ihrer Grundeinstellung zum Schutz des ungeborenen Lebens, wie sie in ihren (…) öffentlichen Verlautbarungen zum Ausdruck kommt, sowie durch das bei ihnen tätige Personal die Gewähr dafür bieten, daß die Beratung im Sinne der verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Vorgaben erfolgt“.

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