© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/12 21. September 2012

Vom Alptraum zur Realität
Amerika und das Böse: Zum 65. Geburtstag des US-Schriftstellers Stephen King
Silke Lührmann

Das Böse ist namenlos, unergründlich und ganz und gar von dieser Welt. Es keimt und wuchert im Schatten des Amerikanischen Traums, in der pathologisch heilen Idylle der kleinstädtischen Zivilgesellschaft – besonders im Bundesstaat Maine, wo Stephen King aufwuchs und bis heute zwei Wohnsitze hat.

Es wurzelt tief in der Psyche des Landes und speist sich aus der gegenseitigen Mißgunst und den alltäglichen Grausamkeiten seiner Bewohner, aus Rassismus, Bigotterie und Konformitätszwang. Es befällt Autos („Christine“, 1983), Hunde („Cujo“, 1981), Rituale wie den traditionellen Abschlußball der High School („Carrie“, 1974), Hotels („Shining“, 1977), Mobiltelefone („Puls“, 2006), ganze Gemeinwesen („Brennen muß Salem“, 1975) ebenso wie klassische Orte des Grauens vom „Friedhof der Kuscheltiere“ (1983) über die Kanalisation („Es“, 1986) bis hin zum gruseligen Antiquitätenladen („In einer kleinen Stadt“, 1991); es zerfrißt zwischenmenschliche Beziehungen, familiäre genauso wie freundschaftliche.

Das Böse ist „Es“. Mit Hilfe altmodischer Tugenden wie Anstand und Mut – und sei es der Mut der Verzweiflung, der Anstand des Verzagten – läßt es sich vorübergehend bezwingen. Fans von Kings Werk wissen jedoch, daß der nächste Roman, in dem es sein häßliches Antlitz erneut zeigen wird, nie lange auf sich warten läßt.

Kings Fiktionen sind so uramerikanisch, so allgemeinmenschlich und so kommerziell erfolgreich wie die Lieder von Bruce Springsteen, die er gerne als Soundtrack evoziert. Ihre Popularität liegt nicht zuletzt in der so detaillierten wie nuancierten Schilderung einer ganz bestimmten Lebenswelt, die – trotz aller Schreckensmomente – auch Gefühle von Nostalgie und Sehnsucht weckt, Erinnerungen an eine so nie erlebte Kindheit, die europäischen Lesern dank der Allgegenwärtigkeit popkultureller Artefakte kaum weniger vertraut erscheint als amerikanischen. Seine eigene Jugend beschreibt King bezeichnenderweise als „vernebelte Landschaft, in der gelegentlich Erinnerungen wie vereinzelte Bäume auftauche (…) diese Art von Bäumen, die aussehen, als wollten sie einen packen und fressen“.

Die Ausbeutung von Mitmenschen und Natur im Namen des zum Verfassungsgrundsatz erhobenen Strebens nach materiellem Glück nimmt King stets als amerikanische Ursünde vorweg, ohne daraus je einen Anspruch auf ideologische Besserwisserei, geschweige denn moralische Autorität abzuleiten. Die Bewährungsproben, denen er seine Figuren aussetzt, sind immer wieder auch Reifeprüfungen: Jenseits jeglicher Schuld und Unschuld markieren sie einen Übergang vom Alptraum zur Realität, die tagtäglich konfrontiert werden will.

Das kostet Kraft und Nerven, wie King nur zu gut weiß. Mit den Dämonen, die er so überaus publikumswirksam auf Tausende von Seiten bannt, hat er zeit seines Lebens selber zu kämpfen gehabt. Der Vater, ein Leichtmatrose aus Indiana, ließ die Familie sitzen, als Stephen zwei Jahre alt war. Nellie Ruth King brachte sich und ihre beiden Söhne im erzkonservativen Amerika der fünfziger Jahre mit Gelegenheitsjobs durch, lange bevor „alleinerziehende Mutter“ als legitime Lebensstilentscheidung emanzipierter Frauen gesellschaftsfähig wurde. Als sie 1974 verstarb, war ihr Jüngster bereits praktizierender Alkoholiker und somit auf dem besten Weg zur erfolgreichen Künstlerlaufbahn.

Der Drang zum Erfinden und Aufschreiben haarsträubender Geschichten, der so vielen seiner Romanfiguren zum Verhängnis wird, quälte ihn bereits in jungen Jahren. Seine ersten Schreibversuche vervielfältigte er auf Matrizendrucker und verteilte sie an Schulfreunde, die erste professionelle Veröffentlichung erfolgte 1967 während seines Studiums an der Universität von Maine, 1973 folgte der erste Vertrag mit einem Buchverlag, 1976 die erste von zahlreichen Hollywood-Verfilmungen mit Sissy Spacek in der Titelrolle der überdrehten Carrie. Seit 1971 ist King mit seiner ehemaligen Kommilitonin und Schriftstellerkollegin Tabitha Spruce verheiratet; den Söhnen Joe und Owen wurde die Berufung zum Schriftsteller buchstäblich in die Wiege gelegt.

Während andere Bestseller-Autoren ihr geistiges Eigentum eifersüchtig vor sämtlichen Übeln des digitalen Zeitalters behüten, weiß King seit jeher, daß Gedankengut nur im Besitz der Allgemeinheit einen Wert hat, und hat das Seine oft geteilt – mit Kollegen wie Peter Straub, dem Ko-Autor von „Der Talisman“ (1984) und „Das schwarze Haus“ (2001); seinem 1985 an „Pseudonymkrebs“ verschiedenen Alter ego Richard Bachman, dem er in „Stark – The Dark Half“ (1989) und mit den „postumen“ Veröffentlichungen „Regulator“ (1996) und „Qual“ (2007) ein furchtbares Denkmal setzte; den anderen Mitgliedern der literarischen Rockband „Rock Bottom Remainders“; oder auch mit den Nachwuchsregisseuren des „Dollar Baby“-Projekts, denen er zum Preis von einem Dollar das Recht einräumte, seine Kurzgeschichten zu verfilmen. Anfang der 2000er Jahre begann er auch mit verschiedenen E-Book-Veröffentlichungen zu experimentieren.

In seiner Prosa kultiviert er jene rauhe Poesie des Romantikers wider Willen und besseres Wissen, an deren Vervollkommnung sich die harten Männer der US-Literatur seit zweieinhalb Jahrhunderten abarbeiten: Die Welt ist schlecht, aber das Leben kann verdammt schön sein. Daß der Meister der Schaudereffekte auch ein brillanter Stilist ist, der neben zahlreichen Auszeichnungen in der Sparte Horror/Phantastik auch schon renommierte Belletristik-Preise wie den National Book Award oder den O. Henry-Preis für die beste Kurzgeschichte absahnen konnte, tut King selber mit dem Verweis auf den schnöden Mammon ab: „Wenn Sie etwas geschrieben haben und jemand Ihnen dafür einen Scheck geschickt hat, wenn Sie den Scheck eingelöst haben und er tatsächlich gedeckt war, und wenn Sie dann mit diesem Geld die Stromrechnung bezahlt haben, dann betrachte ich Sie als begabt.“

Schreiben ist ihm freilich nicht nur Lebensunterhalt, sondern innere Notwendigkeit. „Warum gehen Sie davon aus, daß ich eine Wahl hätte?“ schleudert er neugierigen Journalisten auf die Frage hin entgegen, warum es in seinen Geschichten immer so blutrünstig zugehe. Sein 2000 veröffentlichter Erinnerungsband über „Das Leben und das Schreiben“ enthält außer autobiographischen Schmankerln auch nützliche Ratschläge für Möchtegern-Kings – vom Verzicht auf Adverbien bis hin zur grammatikalisch korrekten Art und Weise, eine Leiche von einem Zimmer ins andere zu befördern.

Der jähe Einbruch des Unheimlichen in allzu heimischer Umgebung ist keine Errungenschaft des Horrorgenres, sondern ein psychologisches und kulturgeschichtliches Klischee – und wird es wohl bleiben, solange das Dasein zum Tode eine ungelöste Aporie ist. Bis dahin werden sich die Schauermärchen des Stephen King und seiner Nachahmer weiterhin millionenfach verkaufen. Um die Stromrechnung jedenfalls braucht sich der heute 65jährige keine Sorgen zu machen.

Foto: Stephen King: Der mit renommierten Belletristik-Preisen ausgezeichnete Meister der Schaudereffekte ist auch ein brillanter Stilist

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