© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/12 21. September 2012

Günter Grass und Christa Wolf sorgten für seine Freilassung
Dissidententum: Der Lyriker, Kinderbuchautor und Sächsische Landesbeauftrage für die Stasi-Unterlagen Lutz Rathenow wird sechzig
Christian Dorn

Nichts scheint wirklicher als die Absurdität. Wenn es auch nur eine Momentaufnahme ist, steht diese Wahrnehmung im vielgestaltigen Werk von Lutz Rathenow doch paradigmatisch für dessen poetisches Schaffen. Beispielhaft illustriert dies die lakonische Reflexion über „Die Zukunft der Mauer“, wo es heißt: „Die Grenze ist da, wo sie nicht zu sehen ist. Ein stets vorhandener Partner in allen Dialogen, dessen Reaktionen einzukalkulieren sind.“

Gedruckt wurde der Text bezeichnenderweise in drei kleinen Printmedien Westdeutschlands, von denen nur eine überlebt hat: Neben der Anarcho-Zeitschrift Schwarzer Faden und dem Vierteljahresheft L´80 war es die JUNGE FREIHEIT, genauer: die erste JF-Ausgabe des Jahres 1988. Das schien – wie es der Wikipedia-Eintrag zu Rathenow nahelegt, wo bis heute ausgerechnet ein Zitat aus dieser JF-Nummer herausgestellt wird – genau auf jener Linie zu liegen, die das DDR-Ministerium für Staatssicherheit in der Dienstanweisung 2/85 über die „Gestaltung der politisch-operativen Arbeit zur Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit“ vorgegeben hatte. Zu dem vom MfS benannten Personenkreis zählte auch der am 22. September 1952 geborene Rathenow, dessen „ausgeprägte Geschäftstätigkeit“ genutzt werden sollte zur „Anbahnung geschäftlicher Beziehungen zu rechtsextremen Kräften als Ausgangspunkt seiner Kompromittierung, eventl. auch Verleihung entsprechender Preise, Ehrenmitgliedschaften u.ä.“

Tatsächlich erhielt Rathenow eine Dekade später den Konrad-Adenauer-Preis der Deutschland-Stiftung – weshalb politisch motivierte Denunziationen auch nach dem Ende der DDR nicht ausbleiben sollten. Heute gehören diese längst der Vergangenheit an, und der einst – mit etwa 15.000 Aktenseiten – am stärksten observierte Schriftsteller der DDR ist nunmehr selbst, seit Frühjahr 2011, Herr über das Erbe der Staatssicherheit als Landesbeauftragter des Freistaats Sachsen (JF 14/11). Während die Publikationstätigkeit Rathenows als Kolumnist daher zurücksteht, sollte sich die Aufmerksamkeit wieder verstärkt seinen Büchern zuwenden.

Diese konnten zu DDR-Zeiten nur im Westen veröffentlicht werden. Vor dem ersten Lyrikband „Zangengeburt“ (1982) war der aus Jena stammende Autor, der nach dem Wehrdienst ein Studium als Lehrer für Deutsch und Geschichte begonnen hatte, zweimal inhaftiert gewesen: zunächst nach der Ausweisung Biermanns 1976 und nochmals 1980 nach dem Erscheinen seines Prosa-Debüts – dies korrespondierte unfreiwillig mit dem im Ullstein-Verlag erschienenen Titel: „Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet“. Doch konnte Rathenow die Untersuchungshaft des MfS bald verlassen. Prominente Proteste, unter anderem von Günter Grass und Christa Wolf, sorgten für seine Freilassung. Fortan bildete die Publizität im Westen eine Art Versicherung, durch die eine Inhaftierung Rathenows für die DDR-Behörden eher unschicklich schien.

Gleichwohl blieb er vermutlich der einzige bekannte Dichter der DDR, der bis zum Fall der Mauer ein Opfer der „Reise-Apartheid“ (Jürgen Fuchs) war. Anders als der mit Rathenow befreundete Fotograf Harald Hauswald, mit dem er 1987 zum 750jährigen Stadtjubiläum Berlins den heute längst als legendär geltenden Text-Bild-Band „Ost-Berlin: die andere Seite der Stadt“ veröffentlichte, mußte der Autor zu Hause bleiben. Dem editorischen Siegeszug von „Ost-Berlin“ tat dies aber keinen Abbruch, obgleich die DDR gegen das Buch vorging. So bestärkte Politbüro-Mitglied Kurt Hager den Stasi-Minister Mielke, „in geeigneter Weise“ Bonner Stellen darauf hinzuweisen, „daß die Veröffentlichung des Buches (...) ein unfreundlicher Akt gegen den (...) Kulturaustausch DDR-BRD ist“.

Tatsächlich verzichtete der Piper-Verlag darauf, das rasch vergriffene Buch wieder aufzulegen. Seit 1989 jedoch erlebt es – heute im Jaron-Verlag erscheinend – zahlreiche Neuauflagen. Wohl nicht zufällig: Ulrich Schacht würdigte die Publikation seinerzeit in der Welt als eine, die „die Chance hat, auch in fünfzig Jahren noch wichtig zu sein“.

Neben den ebenfalls im Jaron-Verlag erschienenen Bildbänden mit Hauswald – „Gewendet“ (2006) und „Alexanderplatz“ (2007) – sowie den skurrilen Prosa-Miniaturen, zuletzt „Klick zum Glück“ (JF 14/11), überzeugt der Autor Lutz Rathenow vor allem in seinen illustrierten Kinderbüchern – etwa „Ein Eisbär aus Apolda“, „Tag der Wunder“ oder „Der Liebe wegen“ (JF 42/10) –, die nicht zuletzt aufgrund der Illustrationen von Egbert Herfurth oder Frank Ruprecht auch für Erwachsene eine wunderbare Lektüre sind.

Foto: Lutz Rathenow: Vom DDR-Opfer zum Herrn über die Stasi-Akten

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