© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/12 28. September 2012

Moskaus Motorwölfe
Rußland: Nicht die Kriminalitätsrate prägt die Rockerszene, sondern Originalität, Buntheit und Heimatliebe
Thomas Fasbender

Der russische Präsident liebt die männliche Pose. Ob als Judoka, im Schleudersitz einer MIG-29, als Taucher bei archäologischen Expeditionen oder mit entblößtem Oberkörper bei der Jagd – Wladimir Putin gefällt sich in der Rolle des Helden, der jedes Risiko beherrscht.

In letzter Zeit sieht man ihn öfter im Kreis schwarzbelederter Männer mit martialischen Emblemen auf dem Rücken, den „Colors“ der Motorradclubs, einer mythenumwobenen Nebenwelt. An ihrem Urgrund stand das Aufbegehren gegen den Muff der Stagnation in den frühen achtziger Jahren. Mit aufgemotzten Ural M63 und tschechischen Jawas versammelten sich die ersten Moskauer Nachtwölfe am Rande illegaler Konzerte – eine Gelegenheit, dem Leben mehr abzuverlangen als sozialistische Sittsamkeit.

Es waren zornige junge Männer, nicht wenige unter ihnen Veteranen aus Afghanistan und anderen Kriegen, die genug hatten vom verlogenen Ideal des fürsorgenden kommunistischen Staates. So wurde das Motorrad in der untergehenden UdSSR zum Ausdrucksmittel einer unpolitischen, aber um so intensiver empfundenen Freiheit.

Es war der Ausgangspunkt einer heute noch zahlenmäßig kleinen, in Selbstverständnis und Habitus elitären Motorradgemeinde. Das russische Klima ist dem Motorradfahren nicht zuträglich. Spätestens Ende Oktober ist Schluß mit lustig, bis in den April kommt der Bock unter Verschluß.

In den warmen Monaten dagegen begegnen einem Jahr für Jahr mehr motorisierte Zweiräder. Den hohen Unfallzahlen trotzt die sprichwörtliche Verachtung der Russen für Gefahr und Risiko. Hinzu kommt der Prestigewert der teuren Maschinen, der Harleys und Gold Wings. Männerfreundschaft, kollektives Erleben und Zusammengehörigkeit bilden während der kurzen Sommer den Nährboden für Motorradfreuden jeder Art.

Bei aller russischen Neigung zu Sonderwegen folgt auch diese Szene den internationalen Begriffen. Sie sind entstanden in den Jahren nach 1945 in den USA, Frucht einer von Krieg und Sieg auf Touren gebrachten Generation. Motorradclubs der härteren Variante, so genannte MCs, grenzen sich von den lässigeren MCCs ab, deren Mitglieder zwar die gleichen Maschinen fahren, deren Selbstverständnis aber mehr Raum für Freizeit und Familie läßt.

Dazwischen rangieren die Brotherhoods, ihren Mitgliedern gegenüber ebenso fordernd wie die MCs, doch weit weniger ehrpusselig. Auch Einprozenter gibt es – eine der Außenwelt wenig bekannte Kategorie von Motorradfahrern, die nur das Gesetz ihrer Gang kennen.

Keine zehn MCs sind es, die Moskaus Motorradszene prägen. Daneben existieren lockerer gestrickte Clubs, dazu Ableger in den Regionen, wo es auch kräftige eigene Gründungen gibt. Manche blühen singulär, ohne Filiale in anderen Städten, und stellen die Freundschaft vor das Wachstum.

Mit Erstaunen registriert der Beobachter aus der Bundesrepublik, daß die russischen MCs in Sachen Brutalität den deutschen nachstehen. Und das, wo doch üblicherweise in Rußland mit härteren Bandagen gefochten wird. Zwar gibt es Revierkämpfe, aber sie scheinen harmlos gegen die unerbittlichen Konflikte in Deutschland.

Um so mehr zeichnet sich die russische Motorradszene durch Originalität und Buntheit aus. Den Moskauer Sexton-Club, das Hauptquartier der Nachtwölfe, hat schon das deutsche Fernsehen gezeigt. Er ist Tribüne, Nachtclub, Restaurant und Werkstatt in einem. Über lange Jahre hinweg haben die Mitglieder dort aus Eisenschrott eine urbane Landschaft geschweißt, die lässig als moderne Kunst durchgehen kann.

Die niedrige Kriminalitätsrate mag auch darin wurzeln, daß die lukrativsten Geschäftsfelder, Prostitution und Gewinnspiel, in Rußland aufgeteilt und besetzt waren, als die Motorradgangs auf den Plan traten. Die großen US-Namen, Bandidos und Hells Angels, sind hierzulande Spätentwickler. Letztere verkünden sogar auf ihrer Internetseite die Geschichte einer marginalen Existenz. Ihr Moskauer Präsident, um einen Interviewtermin gebeten, winkt ab. Mit Rücksicht auf die schwierige Lage seiner deutschen Brüder, läßt er mitteilen. Das spricht für internationale Solidarität, aber nicht für das Selbstbewußtsein der russischen Höllenengel.

Davon haben die Nachtwölfe umso mehr, allen voran ihr Gründungspräsident Sascha „Chirurg“ Saldostanow, der sich in den letzten Jahren gern an Putins Seite fotografieren läßt – oder sollte es umgekehrt sein? Unter seiner Ägide hat der Club sich zum Vorreiter des alt-neuen russischen, ja panslawistischen Patriotismus gewandelt. Stolz stehen die Nachtwölfe zur russischen, „durch nichts befleckten“ Vergangenheit. „Wir sind keine ‘Biker’“, betont Saldostanow, „wir sind russische Motorradfahrer.“

Der Enthusiasmus für die Männer an der Macht stößt nicht überall auf Zustimmung. Die russische Mentalität, grundsätzlich jeder Form von Staat abhold, prägt auch die Mitglieder der MCs, MCCs und Brotherhoods. Etwa jene der Bikers Brothers, eines MC, der 2010 aus einem Kreis langjähriger Freunde entstand. Die Frage, was sie von Clubs in anderen Ländern unterscheide, beantwortet Slawa, ihr Präsident, mit dem Hinweis auf die russische Seele. Die Internetseite des Clubs zitiert die „unveränderten Werte des Glaubens, der Brüderlichkeit und des geistigen Weges“, symbolisiert durch das Kreuz im Zentrum der Clubfarben. Von Politik, sagt Slawa, halte man sich fern.

Der MCC Russischer Weg unter dem ehemaligen Afghanistankämpfer Andrej Rylko hat die Heimatliebe zum Programm gemacht. Während die Mitglieder des Harley-Davidson Clubs Fahrten nach Feuerland, Tibet und Australien unternehmen, führt Rylko seine Truppe entlang der Perlen des Goldenen Rings in Nordosten Moskaus, einer Wiege der russischen Kultur.

Man muß erlebt haben, wie andächtig drei Dutzend breitschultrige Männer in schwarzem Leder einer zierlichen Nonne durch eine Klosterkirche folgen. Oder Kränze am Denkmal für die Gefallenen des Großen Vaterländischen Krieges niederlegen. Tagsüber eskortieren Polizeiautos die Kolonne mit den schweren Maschinen, abends fließt der Wodka, und die Gläser fliegen an die Wand. Rußland – ein Reitwagen-Märchen.

Foto: Präsident Putin im Kreis der „Nachtwölfe“: Freundschaftliches Händeschütteln mit Sascha Saldostanow

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