© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/12 28. September 2012

Annäherungen an die Judenfeindschaft
Der Berliner Politologe Wolfgang Benz hat den fünften Band seines Handbuches des Antisemitismus herausgegeben
Uwe Ullrich

Seit 2008 erscheint in Jahresfrist das inzwischen auf sieben (neun Teil-)Bände konzipierte „Handbuch des Antisemitismus“. Das sozialwissenschaftlich orientierte Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, das sich nicht nur mit Vorurteilen und Folgen des Antisemitismus beschäftigt, sondern auch Fremdenfeindlichkeit in seine Forschungen einbezieht, übernahm die Herausgebae des von ihrem ehemaligen langjährigen Leiters Wolfgang Benz gegründeten Projektes.

Der kürzlich erschienene umfangreiche fünfte Band vereint zwischen den Buchdeckeln etwa 320 Organisationen, Institutionen, Bewegungen, staatliche Behörden, informelle Zirkel und Nichtregierungsorganisationen – wie die vorangegangenen Bände gleichfalls – „in aller Welt in Geschichte und Gegenwart“, in deren Programm oder Praxis „Judenfeindschaft“ eine Rolle spielt. Alphabetisch eingeordnet sind ebenso „Vereinigungen, die sich die Bekämpfung dieser zum Ziel gesetzt haben“.

137 Autoren, meist ungebundene, „freie“ Historiker und Geisteswissenschaftler, referieren über Ahnenerbe und Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, Black Power Movement und B’nai Brith (beide USA), Hamas, Jobbik (Ungarn), Movimento Nationalista Revolutionario (Bolivien), Opus Dei, Radio Maryja (Polen), „Graue Wölfe“ (Türkei) oder die historischen französischen Vereinigungen Action Francaise und Alliance Israelite Universelle. Bei aller Vielfalt spielt die ins Auge springende Einfalt in den einzelnen Beiträgen und in der Gesamtkonzeption eine bedeutende Rolle.

Den Bänden „Länder und Regionen“ und „Personen“ sollte im Band 3 „Begriffe, Theorien, Ideologien“, so nahm der interessierte Leser an, die theoretische Auseinandersetzung mit dem Gegenstand folgen. Ein Mangel, welcher seit Veröffentlichung der ersten Bände in den wenigen Rezensionen beklagt wurde, sollte nun endlich behoben werden. Aber der Begriff „Antisemitismus“ selbst erfährt keinen Eintrag, sondern die Erscheinungen des Judenhasses sind unter verschiedenen Aspekten auf eine Fülle unterschiedlicher Stichworte verteilt: Antijudaismus, Antizionismus, islamisierter, völkischer, linker Antisemitismus, usw. Ob die Entscheidung, den allgemeingültigen Begriff Antisemitismus nicht im Detail historisch zu determinieren, richtig und logisch war, muß in Zweifel gezogen werden. Denn er wurde und wird auch in Zukunft der Erläuterung, der Erklärung bedürfen. Sicherheit in der Nutzung und Verwendung ist schon allein deshalb notwendig, weil Antisemitismus ein häufig umgangssprachlich, journalistisch, publizistisch und wissenschaftlich benutztes Wort im vergangenen Jahrhundert wie jetzt war, dessen praktische Umsetzung im Holocaust endete und bis heute im latent weltweit vorhandenen antijüdischen Vorbehalt im Gedächtnis der Völker geblieben ist.

Um den Anspruch, ein Handbuch – Erklärungen zu liefern, Einschätzungen zu treffen und Tendenzen aufzuzeigen – im wahren Sinne zu verwirklichen, wäre ein chronologischer Abriß der Entwicklungsgeschichte antijüdischer Haltungen zu Beginn, gegebenenfalls als Einleitung des ersten Bandes, erforderlich gewesen. Er hätte den folgenden Ausführungen und Themen die notwendige Strukturierung, eine Orientierung im historischen Zeitraum, eine räumliche Gliederung gegeben und die Wirkung innerhalb gesellschaftlicher Bedingungen bzw. seine innenpolitische Bedeutung erklärt. Rückblickend gesehen lag „gerade in seiner Unbestimmtheit zunächst die Stärke des Begriffs ‘Antisemitismus’ und damit seine politische Funktion. ‘Antisemitismus’, soviel stand für die verschiedenen Anhängergruppen wie für die Gegner fest, meinte Feindschaft gegenüber Juden und Judentum, und zwar in einem von der traditionellen Judenfeindschaft, wie sie etwa gleichzeitig in Ost- und Südosteuropa noch anzutreffen war, durchaus unterschiedlichen Sinn“, beschreibt das Nachschlagwerk „Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland“ bereits vor Jahrzehnten das Phänomen.

Die Beispiele nichtkompatibler fachlicher Aussagen, sachlich konkreter Zusammenhänge und historischer (Fehl-)Einschätzungen lassen sich beliebig aneinanderreihen. Unter dem Begriff „Verjudung“ schreibt Björn Weigel dem französischen Adligen Henri-Roger Gougenot des Mousseaux für sein 1869 erschienenes Buch „Der Jude, das Judentum und die Verjudung der christlichen Völker“ einen weitreichenden Einfluß zu. Aber weder erklärte, früh wirkende Antisemiten wie Houston Stewart Chamberlain, Ludwig Schemann oder Theodor Fritsch noch der 1936 im nationalsozialistischen Deutschland herausgegebene Bild-Text-Band von Theodor Pugel verweisen in ihren Schriften auf den Franzosen. Marginal wird Gougenot des Mousseaux erst wieder von Leon Poliakov in dessen Geschichte des Antisemitismus erwähnt.

Selbst in neueren Arbeiten über das nationale Verhältnis zwischen Katholizismus und Antisemitismus im 19. Jahrhundert in Deutschland und Frankreich findet der engagierte Katholik keine oder nur am Rande Beachtung: „Seine Weltverschwörungsthese gegen Freimaurer und Juden, die den Triumph des Papsttums nicht ertrügen, aber auch sein Antitalmudismus bestimmten die Marsch-richtung des wachsenden Antisemitismus und deuteten seinen Besitzwechsel vom Sozialismus zum Katholizismus an.“ Was Weigel in seinem Personenportrait über Gougenot des Mousseaux „vergißt“ zu erwähnen, ist die Tatsache, daß dessen Schrift ins Deutsche, wenn auch in gekürzter Fassung, übertragen wurde. Kein Geringerer als der spätere „Chefideologe des Dritten Reiches“, Alfred Rosenberg, übersetzte den Text zu Beginn seines Aufenthaltes in München.

Die bisher erschienenen Teile des Handbuches folgen in ihrer inhaltlichen Gestaltung einem Muster: der Aneinanderreihung von Namen, Daten und Fakten, ohne daß diese eine treffende lexikalische Wertung oder Kommentierung erfahren, geschweige denn in historische Zusammenhänge oder in ihrem sachlichem Verhältnis eingeordnet werden. Im allgemeinen sind die Stichwortbeiträge als oberflächlich, auch durch die Querverbindungen zu bereits erschienenen Bänden, inbegriffen Wiederholungen, einzuschätzen und weisen in der inneren Geschlossenheit widersprüchliche Aussagen auf. Auffallend ist eine beinahe deutschfeindlich anmutende Grundtendenz, welche wenig hilfreich ist, um antisemitische Vorbehalte zu erklären. Sie stellen, grob formuliert, nur eine Umkehrung der Aufgabenstellung dar.

Aufzudecken waren die Spielarten antisemitischer Ressentiments. Im Umkehrschluß werden alle intellektuellen Äußerungen, die nicht unbedingt Feindschaft gegen das Judentum beinhalten, ohne gebotene Differenzierung gegen sie gewandt und mit dem nicht zutreffenden Stigma des (deutschen) Nationalismus gekennzeichnet. Vaterlandsliebe heißt auch, sich über die Zustände der eigenen Gesellschaft Gedanken zu machen und nach Ursachen für Mißstände zu suchen. Warum dafür in vielen Gesellschaftsordnungen, Staaten, vornehmlich auf dem europäischen Kontinent, oft die jüdische Gemeinschaft und ihr Glauben haftbar gemacht geworden sind, beantwortet dieses Handbuch nicht.

Wolfgang Benz und seine Mitarbeiter und Beiträger besetzten mit dem „Handbuch des Antisemitismus“ einen überaus wichtigen Titel, der sowohl in der Wissenschaftswelt als auch für Multiplikatoren des öffentlichen Lebens und den historisch interessierten Laien von hohem Wertgehalt ist, aber nicht die anzulegenden Kriterien erfüllt. Wissenschaftlern, welche in Zukunft ein ähnliches Projekt zur Aufklärung über den Antisemitismus und seine Folgen auf den Weg bringen wollen, wird es deshalb vorbehalten bleiben, ein intellektuell durchdrungenes wissenschaftliches Standardwerk zu schaffen.

Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Band 1: Länder und Regionen, Saur Verlag, München 2008, gebunden, 443 Seiten, 109,95 Euro

Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Band 2: Personen, Band 2/1und 2/2. Verlag de Gruyter, Berlin 2009, gebunden, 934 Seiten, 209 Euro

Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Band 3: Begriffe, Theorien, Ideologien. Verlag de Gruyter, Berlin 2010, gebunden, 388 Seiten, 129,95 Euro

Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Band 4: Ereignisse, Dekrete, Kontoversen. Verlag de Gruyter, Berlin 2011, gebunden, 492 Seiten, 119,95 Euro

Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Band 5: Organisationen, Institutionen, Bewegungen. Verlag de Gruyter, Berlin 2012, gebunden, 682 Seiten, 199,95 Euro

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