© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/12 28. September 2012

Herzzerreißende Schicksale
Die Journalistin Sonya Winterberg über die „Wolfskinder“, die als Kriegswaisen aus Ostpreußen die härteste Nachkriegszeit erleben mußten
Detlef Kühn

Ältere Menschen können sich noch an die Zeit nach dem Krieg erinnern, als der Suchdienst sich bemühte, Familien wieder zusammenzubringen, die durch Kampfhandlungen, Flucht und Vertreibung auseinandergerissen worden waren. Besonders berührend war das Schicksal von zum Teil kleinen Kindern, die ihre Eltern verloren hatten, manchmal kaum ihre Namen kannten und auf der Suche nach Verwandten oder Freunden ihrer Familie waren, die ihnen bei der Feststellung ihrer Identität helfen konnten. Endlose Listen von Eltern oder Großeltern, die Kinder suchten – und umgekehrt –, wurden im Radio verlesen. Plakate mit Fotos hingen in Amtsstuben aus. Tausende von Fällen konnten geklärt und die häufig durch den Krieg arg verkleinerten Familien zusammengeführt werden. Nicht selten jedoch blieben alle Bemühungen erfolglos.

In Ostpreußen wütete die sowjetische Soldateska wohl noch schlimmer als in anderen Bereichen der Ostfront. Über die Massenvergewaltigungen und Morde wird von allen Fronten berichtet. In Ostpreußen traf die Russen der Kulturschock in Mitteleuropa, über den auch sonst berichtet wird, besonders früh. Die Folge war eine grenzenlose Zerstörungswut, die eine Landschaft und Orte traf, die bis dahin meist unter Kampfhandlungen nur wenig gelitten hatten. Selbst wenn Dörfer und Städte kampflos besetzt wurden, wurden sie nicht nur geplündert, sondern häufig abgefackelt. Dabei wurde Infrastruktur, die man später gut hätte gebrauchen können, vernichtet.

Dasselbe gilt für vorgefundene Lebensmittelvorräte, unter deren Verlust besonders die von der Front überrollte deutsche Bevölkerung litt – in der Regel, Frauen, Alte und Kinder, da fast alle Männer im Krieg, in Gefangenschaft oder von den Sowjets verschleppt waren. Die Folge war allgegenwärtiger Hunger: Zuerst starben die von den Vergewaltigungen sowieso schon geschwächten Mütter, die Lebensmittel zuerst den Kindern zukommen ließen. Dann die kleinen Kinder; zurück blieben die etwas älteren, die versuchten, sich selbst und häufig auch jüngere Geschwister irgendwie am Leben zu halten. Das alles geschah in einem Klima der Unterdrückung, Willkür und Rechtlosigkeit der sowjetischen Besatzer. Diesen Kindern „aus dem Land der Vogelfreien, aus dem Totenland“ (Robert Jungk) und ihrem Schicksal widmet sich Sonya Winterberg, eine finnlandschwedische Journalistin, geboren 1970, in ihrem Buch über „Wolfskinder“ – keine glückliche Bezeichnung, die sich aber schon früh durchgesetzt hat.

Es waren viele hundert deutsche Kinder, die nach Kriegsende bettelnd auf der Suche nach etwas Eßbarem durch das Land zogen. Bald erhielten sie den Rat, sich nach Osten zu wenden, nach Litauen, das ihnen bald als „gelobtes Land“ erschien, was es natürlich nicht war. Litauen war schon wieder sowjetisch geworden, von der Kollektivierung heimgesucht und keinesfalls im Überfluß lebend. Aber besser war die Ernährungslage dort schon als auf der deutschen Seite der alten Grenze. Die bettelnden Kinder erhielten etwas geschenkt, durften im Stall oder in der Scheune übernachten oder – das war das Beste – im Sommer einige Wochen bei der Ernte helfen oder Vieh hüten. Wenn Litauer deutsche Kinder in ihren Haushalt aufnahmen, liefen sie Gefahr, die Aufmerksamkeit des KGB zu erregen; denn Verbindungen zu „faschistischen“ Deutschen waren verboten. Sie konnten auch für die Litauer direkt nach Sibirien führen! So wurden die Kinder angehalten, schnell Litauisch zu lernen, damit sie als eigene Kinder ausgegeben werden konnten. Bei kleinen Kindern verblaßte dann bald die deutsche Identität.

Sonya Winterberg nähert sich ihren heute betagten Gewährspersonen mit viel Einfühlungsvermögen. Sie läßt sie einfach reden. Wenn die Deutschkenntnisse nicht mehr ausreichen, werden noch ältere „Wolfskinder“ als Dolmetscher hinzugezogen. Die sich wiederholenden, oft grauenvollen Schilderungen der kindlichen Erlebnisse sind für den Leser noch immer bedrückend. Winterberg versucht, die Erzählungen in die Zeitgeschichte einzuordnen, etwa indem sie auf Begegnungen der Kinder mit „Waldbrüdern“ (antisowjetische Partisanen) hinweist.

Ab 1947 werden in Ostpreußen und Litauen Kindertransporte in die spätere DDR zusammengestellt. Auch dem Schicksal einiger dieser Jugendlichen in Rest-Deutschland wird nachgegangen. Die politische Wende im Ostblock ermöglicht verstärkt Besuchsreisen zu wieder entdeckten Verwandten. Viele „Wolfskinder,“ die jetzt Litauer sind, möchten ihre deutsche Staatsangehörigkeit aufleben lassen. Die deutschen Behörden reagieren nicht immer sachgerecht. Oft muß der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU) helfend eingreifen. Aber nur selten kann man in einem Lebenslauf von einem „Ende gut, alles gut“ sprechen. Zuviel ist nicht mehr gutzumachen.

Sonya Winterberg: Wir sind die Wolfskinder. Verlassen in Ostpreußen. Piper Verlag, München 2012, gebunden, 336 Seiten, 19,99 Euro

Foto: Deutsches Kind in den Wirren der Nachkriegszeit: Irgendwie am Leben bleiben

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