© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/12 05. Oktober 2012

Verzweifelte Kampfansage
Bevölkerungsentwicklung: Die Bundesregierung versucht, der demographischen Krise mit einem Expertengipfel zu begegnen
Christian Schreiber

Wenn eine Veranstaltung die Bezeichnung Gipfel im Namen trägt, dann muß sie von besonderer Bedeutung sein. Dabei mutete es allerdings komisch an, daß der sogenannte Demographie-Gipfel, den die Bundesregierung für diesen Donnerstag in Berlin angekündigt hat, nur wenige Stunden andauert. Von 10 bis 15 Uhr sollen sich zahlreiche Experten im Beisein der Bundeskanzlerin dem Thema widmen. Angela Merkel hatte bereits im April den demographischen Wandel zur Chefsache gemacht. Damals rief sie zu einer solidarischen Gesellschaft auf, stellte die Strategie „Jedes Alter zählt“ vor und machte sich Sorgen um Altersarmut und Kindermangel.

In Berlin wurden nun die Resultate aus verschiedenen Arbeitsfeldern vorgestellt. Die Zahlen, die den Analysen zugrunde gelegt wurden, haben allerdings keine wirklich neuen Erkenntnisse ans Licht gebracht. Unter dem Strich läßt sich zusammenfassen: Die in Deutschland lebende Bevölkerung bekommt immer weniger Kinder, wird immer älter und hat einen stetigen Anstieg an Menschen mit Migrationshintergrund zu verzeichnen.

Die zusammengefaßte Geburtenziffer des Jahres 2011 betrug in Deutschland 1,36 Kinder je Frau. Damit lag sie nach Angaben des Statistischen Bundesamtes niedriger als im Vorjahr (1,39) und etwa auf dem Niveau von 2009. Die durchschnittliche Zahl der Geburten ging 2011 bei jüngeren Frauen zurück, während sie bei den Frauen im Alter von Mitte Dreißig bis Mitte Vierzig zunahm. In den neuen Ländern war die zusammengefaßte Geburtenziffer mit 1,43 Kindern je Frau höher als im früheren Bundesgebiet (1,36). Während die Geburtenhäufigkeit in den neuen Ländern – nach einem Einbruch in den ersten Jahren nach der deutschen Vereinigung – seit Mitte der neunziger Jahre deutlich zugenommen hat, stagnierte sie im früheren Bundesgebiet auf niedrigem Niveau. Gegenüber dem Vorjahr nahm die Geburtenziffer 2011 allerdings in allen Bundesländern außer dem Saarland ab.

Die Suche nach den Ursachen läuft seit Jahren auf Hochtouren. „Brauchen wir wieder Krieg und Not, um Kinder zu bekommen?“ fragte unlängst die Welt und machte eine verbreitete Wohlstandsmentalität verantwortlich. Reiner Klingholz, Leiter des Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, glaubt jedenfalls nicht an eine schnelle Trendwende: „Wir sehen keinerlei Effekte, was die Fertilitätsrate, also die Kinderzahl je Frau anbelangt.“ Klingholz stellt die These auf, daß in Deutschland die Rolle der Frau in Beruf und Familie nach wie vor ungeklärt sei: „Unter den entwickelten Ländern zeigen jene, die mehr Wohlstand und eine bessere Gleichstellung von Frauen und Männern haben, höhere Kinderzahlen. Da, wo am meisten Frauen in Parlamenten vertreten, wo am meisten Frauen berufstätig sind. Auch in Berufen, die als klassische Männerberufe gelten, also Physiker, Ingenieure. Und wo die Einkommensunterschiede zwischen Frauen und Männern am geringsten sind, dort sind die Kinderzahlen am höchsten“, sagte er der Welt.

Immerhin: Ein paar positive Zeichen gibt es. Der Trend, daß vor allem beruflich gut qualifizierte Frauen weniger Kinder bekommen, scheint sich abzuschwächen oder gar umzukehren. Eine neue Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BIB) gab jetzt Entwarnung. Ihr zufolge ist der Abwärtstrend, der in erster Linie Akademikerinnen in Westdeutschland betraf, gestoppt. So stellten die Forscher fest, daß zwischen 2005 und 2009 ein deutlicher Anstieg der Geburten bei über 35 Jahre alten Akademikerinnen zu erkennen ist. Kamen 2005 auf 1.000 hochqualifizierte Frauen über 35 Jahren noch 453 Kinder, so waren es 2009 schon 548. Während die Kinderzahl aller Frauen in den vergangenen zehn Jahren konstant blieb, bekamen Akademikerinnen wieder etwas mehr Kinder. Die positive Entwicklung der Geburtenrate bei Akademikerinnen verläuft parallel mit einer gesellschaftlichen Entwicklung zur späten Geburt. Immer mehr Frauen bekommen ihre Kinder erst nach dem, 30. Lebensjahr. Waren bis 2003 die unter 30 Jahre alten Mütter in der Überzahl, so hat sich dieses Verhältnis verkehrt. Ein Beispiel: Im Jahr 2010 gab es 743 Kinder pro 1.000 Frauen im Alter von 30 bis 39 Jahren, aber nur 535 Kinder in der Altersgruppe der 20- bis 29jährigen Frauen. Dazu paßt, daß in den vergangenen 40 Jahren das durchschnittliche Alter der Mütter beim ersten Kind um vier Jahre angestiegen ist. 1965 waren westdeutsche Frauen bei der Geburt des ersten Kindes im Durchschnitt 24,9, im Jahr 2010 fast 29 Jahre alt.

Ein anderer Trend hält dagegen unvermindert an. Der Bevölkerungsanteil von Menschen mit Migrationshintergrund steigt immer weiter an. Im Jahr 2011 lebten in Deutschland rund 216.000 Menschen mehr mit Migrationshintergrund als im Vorjahr. Das Statistische Bundesamt hat diese Zahlen auf der Basis des Mikrozensus 2011 ermittelt. Danach hatten insgesamt knapp 16 Millionen Personen einen Migrationshintergrund, also Wurzeln außerhalb des Bundesgebietes. Das entspricht einem Anteil von 19,5 Prozent an der Gesamtbevölkerung Deutschlands. Die Mehrheit von ihnen, nämlich 8,8 Millionen Menschen, hatte 2011 einen deutschen Paß; 7,2 Millionen waren nicht im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft.

Foto: Leere Bettchen auf einer Säuglingsstation: Es gibt auch einige positive Zeichen

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