© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/12 05. Oktober 2012

„Wohlfühlen steht an erster Stelle“
Demenz: Bei der Pflege der Patienten kommt es auf Rituale und den Erhalt des Gewohnten an. Eine große Herausforderung für das Personal
Hinrich Rohbohm

Elvira Beginskis (alle Namen geändert, d. Red.) Augen beginnen zu leuchten, als sie das Gesicht der Altenpflegerin erblickt. Es ist ein vertrautes Gesicht, in das die 92jährige Dame blickt. Auch wenn sie es keinem Namen zuordnen kann. Daß sie nicht mehr weiß, daß die Altenpflegerin Marianne Barghusen heißt, hat einen Grund. Elvira Beginski leidet an einer Krankheit, die jeden treffen kann und immer mehr – vor allem alte Menschen – in Deutschland trifft: Demenz. Sie bedeutet den immer weiter fortschreitenden Verlust von Denkvermögen, Erinnerungen und Orientierung.

Vorsichtig und mit zittrigen Schritten nähert sie sich ihrem Zimmer, den Rollator als willkommene Stütze benutzend. Seit gut zwei Jahren lebt sie in einer Wohngemeinschaft für Demenzkranke, irgendwo in Berlin. Wo genau sie sich befindet, das soll besser ungenannt bleiben. Aus Respekt vor den Patienten. Wenn Elvira Beginski auf dem Flur anderen Patienten begegnet, kann es sein, daß sie grüßt. Sie ist sich der Begegnung bewußt. Daß es sich dabei um ihren Zimmernachbarn handelt, weiß sie allerdings nicht.

Patienten wie Elvira Beginski meinen oft, sie seien gar nicht krank. Sie nehmen andere Personen als alt wahr, während sie sich selbst schon mal auf Anfang 30 schätzen. Doch der Jüngste in der Wohngemeinschaft ist Mitte sechzig, die Älteste 104 Jahre alt. In den Zimmern steht vertrautes Mobiliar. „Die Patienten haben ihre eigenen Möbel, das gibt ihnen Sicherheit“, erklärt Marianne Barghusen.

Nicht der Patient, das Personal muß sich anpassen

Bei Elvira Beginski sind es die grüne Couch, der dunkle Eichenschrank, der braune Leder-Fernsehsessel und der große Nußknacker auf dem Wohnzimmertisch. Auch ein Ölgemälde gehört dazu. Es zeigt eine Landschaft. Berge, Wiesen, Wald und einen See. „Was ist das für ein Bild, Frau Beginski?“ fragt Marianne Barghusen ihre Patientin. Sie weiß es längst. Sie hat die Frage schon dutzende Male gestellt. Die Antwort ist nicht wichtig. „Es geht um positive Erinnerungen“, erklärt sie. Die Patienten sollen sich wohl, nicht unnützlich fühlen.

Sie werden in die Hausarbeit eingebunden. Waschen, einkaufen, kochen, backen. Feste Rituale sollen den Alltag der Demenzkranken erleichtern. Zeitung lesen, spazierengehen, malen und spielen. Ruhezeit nach dem Mittagessen, später Kaffee trinken. Hinzu kommen den Jahreszeiten entsprechend angepaßte Ausflüge.

„Wenn jemand körperlich dazu noch in der Lage ist, würden wir mit ihm im Winter auch zum Rodeln fahren“, erzählt die Pflegerin. Erst vor kurzem stand ein Museumsbesuch auf dem Programm. Ein besonderer Höhepunkt. Vertrautes aus der einstigen Lebenswelt wird dann gesichtet. Alte Schreibmaschinen, Nähmaschinen, Webstühle. „Alles Sachen, die mancher früher noch selbst benutzt hatte“, schildert Marianne Barghusen, wie ihre Patienten beim Anblick der Geräte auflebten. Manchmal werden gemeinsam Fernsehklassiker wie die „Feuerzangenbowle“ oder „Sissi“ angesehen, alte Lieder gesungen.

„So, jetzt singen wir einen Marsch“, hatte Matthias Schirmer den Patienten gegenüber einmal angekündigt. „Da ist denen regelrecht das Herz aufgegangen“, erinnert sich der Geschäftsführer der Pflegeeinrichtung.

Vertrautes hervorrufen, ein Gefühl von Sicherheit vermitteln in einer Welt, die für den Demenzkranken unsicher geworden ist. Weil eben jede Erinnerung immer weniger funktioniert, immer stärker verblaßt, um irgendwann ganz zu verschwinden. Weil das Denkvermögen nachläßt. Und weil die Aktivitäten des Alltags nicht mehr bewältigt werden können. Erst wenn das der Fall ist, komme die Wohngemeinschaft ins Spiel.

Dann, wenn sich die Angehörigen eingestehen müssen, daß sie ihrem Vater oder Großvater zu Hause nicht mehr helfen können. Wenn Oma oder Opa den Herd nicht mehr ausschalten, die Nahrungsaufnahme vergessen, mitten in der Nacht hinaus auf die Straße rennen und immer häufiger stürzen, ist außerfamiliäre Hilfe quasi unvermeidbar.

„Wenn Sie dann Ihren Vater noch selbst pflegen wollen, haben Sie einen 24-Stunden-Dienst. Und wenn Sie dabei auch noch berufstätig sind, schaffen Sie es nicht“, schildert Schirmer die Probleme bei fortschreitender Krankheit.

„Das ist manchmal schon bitter, wenn Sie mit ansehen müssen, wie ehemalige Professoren, die einst Koryphäen ihres Fachgebiets waren, körperlich und geistig abbauen“, beschreibt Schirmer erschütternde Erlebnisse mit Demenzkranken, die einst zur intellektuellen Elite gezählt haben. „Mit solchen Leuten kann ich natürlich nicht plötzlich anfangen, Bällchen zu spielen.“ So unterstreicht der Geschäftsführer, daß nicht der Patient sich anpassen müsse, sondern das Personal.

„Wir müssen die Leute so nehmen, wie sie sind“, sagt Schirmer. Vor allem Respekt sei wichtig. „Glauben Sie mir, trotz ihrer Erkrankung merken die noch genau, wenn sie schlecht behandelt werden.“ Auch seien sie sich ihrer Aussetzer durchaus bewußt.

Die Mitarbeiter stellen sich auf jeden einzelnen Demenzkranken und dessen Lebenssituation ein. Auch aus diesem Grund ist die Wohngemeinschaft auf maximal zwölf Personen begrenzt.

Möglichst die positiven Erinnerungen hervorrufen

„Mit einem 95jährigen gehe ich natürlich keine Polka tanzen. Und wenn der ehemalige Bäckermeister früher so gelebt hat, daß er morgens um halb drei aufgestanden ist, dann muß ich ihn nicht wegen Schlafstörung mit Tabletten ruhigstellen“, nennt Schirmer Beispiele aus der praktischen Arbeit. „Es gibt Leute, mit denen können Sie noch einen Berg besteigen. Und andere sitzen einfach nur im Sessel und machen gar nichts.“ Auch das sei in Ordnung, wenn es den Lebensgewohnheiten des Patienten entspricht. „Manchmal kommen die Angehörigen und sehen ihren Opa nur so im Sessel sitzen. Dann regen sie sich auf, ohne auf die Idee zu kommen, daß er sich dabei einfach nur wohlfühlen könnte.“

Personal mit Herz und Einfühlungsvermögen sei deshalb für diese Arbeit unverzichtbar. „Was die Mitarbeiter leisten, verdient höchsten Respekt“, sagt der Geschäftsführer.

Neben der ohnehin hohen Belastung in der Alltagsarbeit führen sie intensive Gespräche mit den Familienangehörigen, um möglichst viel über die Lebensgewohnheiten ihrer Patienten zu erfahren. „Die Biographie des Demenzkranken zu kennen ist für unsere Arbeit von großem Vorteil“, erzählt Marianne Barghusen.

Daher weiß sie, daß Elvira Beginski selbst einmal Ärztin gewesen ist. Sie weiß auch um die große emotionale Bedeutung jenes Landschaftsbildes mit Bergen, Wiesen, Wald und See. „Das Bild hatte mir meine Mutter zum Geburtstag geschenkt“, erinnert sich die Patientin. Wann das genau war, weiß sie zwar nicht mehr. Aber sie habe damals einen Mann kennengelernt, in den sie sich verliebte, taucht Elvira Beginski in die noch verbliebene Erinnerung ein, um dann für eine Weile stumm zu verharren. „Das war eine schöne Zeit“, sagt sie nach langer Pause. „Leider hatte er mich einfach sitzenlassen“, seufzt sie schließlich.

Marianne Barghusen wechselt schnell das Thema. „Was ist das denn da für ein schöner Nußknacker auf ihrem Tisch?“ lenkt sie ab. Die alte Frau lächelt, erzählt eine neue Geschichte aus ihrem Leben. „Wir versuchen möglichst, die positiven Erinnerungen abzurufen“, erklärt die Altenpflegerin ihr Manöver. Denn: „Wohlfühlen steht bei uns an erster Stelle.“

 

Demenz

Unter Demenz versteht man den organisch bedingten, fortschreitenden Verlust geistiger Fähigkeiten. Zu den Symptomen (siehe nebenstehende Tabelle) zählen Gedächtnis- und Wahrnehmungsstörungen bis hin zu Desorientiertheit und Persönlichkeitsveränderungen. In der Folge kommt es meist auch zu körperlichem Abbau. Dies betrifft vor allem Patienten ab dem 50. Lebensjahr.

Demenz ist die häufigste Einzelursache für Pflegebedürftigkeit im Alter. In Deutschland leiden rund sieben Prozent der über 65jährigen und etwa 30 Prozent der über 80jährigen unter Demenz.

Etwa 70 Prozent der Betroffenen leiden an einer Alzheimer Demenz (Morbus Alzheimer), benannt nach dem deutschen Psychiater und Neurologen Alois Alzheimer (1864–1915), der als erster die Krankheit beschrieben und krankhafte Veränderungen im Hirngewebe als Ursache dafür identifiziert hatte. Der Grund für diese Veränderungen ist noch immer weitgehend ungeklärt. Diskutiert werden unter anderem genetische Faktoren („Alzheimer Gene“). Typisch ist, daß das Gehirn der Patienten im Laufe der Erkrankung immer mehr schrumpft und sich große, mit Flüssigkeit gefüllte Hohlräume bilden.

Zur Behandlung der Demenz werden unter anderem Neurotropika verwendet, also Medikamente, die die Hirnleistung verbessern sollen. Ihre Wirksamkeit ist jedoch fraglich, der Einsatz daher umstritten.

Für den dementen Patienten sind im Alltag feste Gewohnheiten und klare, einfache Regeln absolut notwendig; so muß zum Beispiel die Struktur des Tagesablaufs beständig eingehalten werden, unabhängig davon, ob es ein Werk-, Sonn- oder Feiertag ist. Pflegende Personen sollten in einfachen, kurzen Sätzen mit dem Patienten sprechen. Hirnleistungsgestörte sollten jedoch nicht mit Kindern verglichen oder wie kleine Kinder behandelt werden.

 

Symptome einer Demenz

Intellektuelle und kognitive Fähigkeit:

• Zerstreutheit, Konzentrationsstörung

• Massive Störungen der Merkfähigkeit

• Orientierungsstörungen in bezug auf Raum und Zeit mit Verlust des Tag-Nacht-Rhythmus

• Probleme, sich auszudrücken

Stimmung und Befindlichkeit:

• Interesselosigkeit

• Patient zieht sich zurück, es sind keine Gefühlsregungen mehr erkennbar

• Ängstlichkeit

• Stimmungslabilität

• Neigung zu diffuser Verstimmtheit Verhalten:

• Apathie (Teilnahmslosigkeit)

• Reizbarkeit und Aggressivität

Körperliche Funktionen:

• Gangstörungen (Trippeln mit kleinen Schritten)

• Inkontinenz

 

Schweregrade

Leichte Demenz

Obwohl Arbeit und soziale Aktivitäten deutlich beeinträchtigt sind, bleibt die Fähigkeit erhalten, unabhängig zu leben

Mittlere Demenz

Eine selbständige Lebensführung ist nur mit Schwierigkeiten möglich und ein gewisses Ausmaß an Aufsicht erforderlich

Schwere Demenz

Die Aktivitäten des täglichen Lebens sind weitgehend zusammenhanglos, so daß eine kontinuierliche Aufsicht benötigt wird (z.B. Unfähigkeit, minimale persönliche Hygiene aufrechtzuerhalten, sinnlose Aktivitäten und Emotionen oder Apathie

 

Abgrenzung

(Multiinfarkt-) Demenz

Beginn:

meist plötzlich

 

Verlauf:

sich schubweise verschlechternd

 

Schlaganfälle:

häufig in Vorgeschichte

 

Lähmungen/Taubheitsgefühle:

häufig vorhanden

 

Alzheimer Demenz

Beginn:

unmerklich

 

Verlauf:

sich langsam verschlechternd

 

Schlaganfälle:

meist keine

 

Lähmungen/Taubheitsgefühle:

fehlen normalerweise

 

Prognose der Demenzfälle bis zum Jahr 2050 in Deutschland

Zur Zeit leben in Deutschland etwa 1,2 Millionen Menschen mit einer mittelschweren oder schweren Demenz. Weil die Zahl älterer (und damit anfälliger) Personen steigt, wird auch die Zahl der Patienten steigen.

Eine Studie des Max-Planck-Instituts für demographische Forschung in Rostock hat verschiedene Annahmen zugrunde gelegt (siehe Gra k). Bei Szenario A bleiben Lebenserwartung und Demenzhäufigkeit gleich; der Anstieg auf etwa 1,5 Millionen im Jahr 2050 entspricht nur der Bevölkerungsentwicklung. Dies ist eher unwahrscheinlich. Szenario B geht von einer gestiegenen Lebenserwartung aus (2,7 Millionen Fälle im Jahr 2050); bei Szenario B1 wird eine sinkende Häufigkeit (durch medizinschen Fortschritt) zugrunde gelegt.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen