© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/12 05. Oktober 2012

Die Kostenspirale dreht sich immer schneller
Gesundheitspolitik: Demenzerkrankungen belasten die Kranken- und Pflegeversicherungen / Heilung ist trotz intensiver Forschung nicht in Sicht
Jens Jessen

Der Dortmunder Professor Walter Krämer ist nicht nur ein engagierter Kämpfer für den Erhalt der deutschen Sprache und Warner vor den Risiken der Euro-Rettung. Bereits vor über zwei Jahrzehnten erkannte der Wirtschafts- und Sozialstatistiker „die Fortschrittsfalle der modernen Medizin“: Die moderne Medizin ist das Opfer ihres eigenen Erfolges. Würde die Heilkunde auf der Stufe von Sauerbruch, Semmelweiß, Koch und Röntgen verharren, gäbe es auch keine Kostenexplosion, schrieb Krämer in seinem Buch über „Die Krankheit des Gesundheitswesens“ (S. Fischer Verlag 1989).

Die Behandlung im Krankenhaus müßte ohne Herzschrittmacher, Dialyseautomaten, moderne Antibiotika und Magnetresonanztomographie (MRT) durchgeführt werden. Von Organtransplantionen und Operationen am offenen Herz ganz zu schweigen.

Gesundheitsökonomen und Politiker behaupten aber, Ärzte, Apotheker, die Pharmaindustrie und die Krankenhäuser sollen an der Kostenexplosion im Gesundheitswesen schuld sein. Krämer hält das für Propaganda, da die Preise von Gesundheitsgütern in aller Regel langsamer und nicht schneller als andere Preise gestiegen sind. Der medizinische Fortschritt verlängert die Lebensdauer. Und je besser die Medizin ist, um so mehr Kranke, denen geholfen werden kann, wird es geben. Das gilt auch insbesondere für Demenzfälle. Bei den 85jährigen ist schon etwa die Hälfte betroffen.

In Deutschland wird in wenigen Jahrzehnten die Zahl der Demenzfälle doppelt so hoch sein wie heute. Derzeit sind 1,4 Millionen Menschen betroffen. Alzheimer und andere Demenz-Erkrankungen werden immer mehr zu einer Geißel der Menschheit werden. Bis 2030 wird sich die Zahl der Erkrankten weltweit auf 66 Millionen verdoppeln. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) rechnet bis 2050 mit rund 115 Millionen Menschen, die unter dieser Hirner-krankung leiden. Jeder dritte Mann und jede zweite Frau müssen laut einer Krankenkassen-Studie damit rechnen, irgendwann an Demenz zu erkranken. Zwei Drittel der Demenzkranken sind pflegebedürftig. Die WHO-Studie bestätigt frühere deutsche Berechnungen, wonach die Pflege von Demenzkranken immer höhere Kosten verursacht.

Die durch Demenz verursachten Kosten liegen im leichten Krankheitsstadium pro Patient bei 15.000 Euro jährlich. Sie steigen bei schwerer Demenz auf 42.000 Euro. Die Kosten resultieren in erster Linie aus dem steigenden Pflegebedarf. Die Ausgaben für Medikamente verursachen deutlich weniger als fünf Prozent der anfallenden Kosten. Diese Zahlen ergab die multizentrische „German Study on Ageing, Cognition and Dementia“ (AgeCoDe), die im Rahmen des Kompetenznetzes degenerative Demenzen vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird.

Bedingt durch den demographischen Wandel wird sich das Problem verschärfen. Je älter jemand ist, desto höher steigt das Risiko dement zu werden. Durch den Geburtenrückgang brechen aber Einzahler in die Sozialsysteme weg. Zugleich können sich immer weniger Jüngere um die älteren Dementen kümmern. 2050 könnten vier von hundert Menschen von einer Demenz betroffen sein. Hinzu kommt die Abwanderung aus dem Norden und Osten in den industriestarken Süden und Westen. Schon 2008 nahm das Oberlausitz-Städtchen Hoyerswerda mit 2.190 Demenzkranken je 100.000 Einwohnern den Spitzenplatz ein, dicht gefolgt von Görlitz und Dessau. Die Erklärung ist einfach: Ein Drittel der dortigen Wohnbevölkerung ist über 65 Jahre alt.

Die Vorsitzende des Verbandes Alzheimer Disease International (ADI), Daisy Acosta, hält die verschiedenen Formen der Demenz sogar für das größte gesundheitliche und soziale Problem des 21. Jahrhunderts. Und Heilung ist trotz intensiver Forschung nicht in Sicht. Fortschritte gebe es vor allem, „wenn es darum geht, Alzheimer zu diagnostizieren und von anderen Demenzen abzugrenzen“, zitierte die Frankfurter Rundschau vorigen Monat anläßlich des Weltalzheimertages den renommierten deutschen Neurologen Jörg Schulz. „Mir fehlt die Phantasie für die Vorstellung, daß wir eine fortgeschrittene Alzheimer-Demenz irgendwann heilen können“, so der Direktor der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikums Aachen.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen