© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/12 05. Oktober 2012

Vermüllung in den Köpfen
Digitale Demenz: Der Gehirnforscher Manfred Spitzer sorgt sich um die Leistungsfähigkeit unsere Kinder
Sebastian Hennig

Der Ulmer Psychiater und Hirnforscher Manfred Spitzer hat voll durchgeladen, um die digitalen Eingeborenen aufzumischen. Dabei zielt er weniger auf die digital natives, welche arme Kinder, zumeist auch armer Leute Kinder sind. Bei dieser Internet-Population handelt es sich eher um aus der Fülle der Wirklichkeit Ausgestoßene und ins virtuelle Lager Übergesiedelte, als um Eingeborene einer neuen, spannenden Wirklichkeit, wie uns die Propaganda glauben machen will.

Vielmehr hat Spitzer (Jahrgang 1958)die Industrie und am meisten die Exponenten aus Politik, Bildung und Forschung aufs Korn genommen, die sich zu Vollstreckern sinistrer Machenschaften aufschwingen. Er vergleicht die Hersteller der Zerstreuungselektronik mit der Waffen- und Tabakindustrie, die für höhere Umsätze Beeinträchtigungen ganzer Völker in Kauf nimmt. Stefan George sah vor hundert Jahren das Internet voraus: „Wo hinter maasloser wände/ Hässlichen zellen ein irrsinn/ Grad erfand was schon morgen/ Weitste weite vergiftet/ Bis in wüsten die reitschaar/ Bis in jurten den senn:“ Derb und unmißverständlich tönt es auch aus Spitzers Buch, über das „Anfixen“ zur Freßsucht, vom Computer als Lernverhinderungsmaschine und „copy and paste“ statt Lesen und Schreiben.

„Der Bildungsminister schenkt den Kindern ein globales Dorf“, könnte ein zynischer Propagandafilm betitelt sein, der die systematische Entmenschlichung einer Generation zu analphabetisierten, urteilslosen Empfängern als epochale Verbesserung glorifiziert. Gleichheit ist dann am einfachsten hergestellt, wenn alle gleich dumm sind. Aber wie ein gestrandeter Wal drückt sich eine solche Gesellschaft an der eigenen funktionslos gewordenen Biomasse zu Tode.

Spitzers Buch ist von der Hoffnung geleitet, daß diese Entwicklung weniger von einer Verschwörung als durch Verblendung befördert wird. In vierzehn Kapiteln breitet der Aufklärer die Aspekte aus, konfrontiert jeweils die landläufigen Thesen mit dem neuesten wissenschaftlichen Stand und zieht am Ende jeweils sein Fazit aus der Abweichung.

Der Autor des knapp 370 Seiten starken Bandes ist gewiß kein homme de lettre. Seine Prosa ist besser in kurzen Zeitschriftenbeiträgen aufgehoben. Dem Professor ist in allen Punkten sachlich zuzustimmen, allein in der Form seines Einwurfs hat er sich vergriffen. Volkstümelnde Schnoddrigkeit ist charakteristisch für einen Wissenschaftler, der gewohnt ist, den Kenntnisstand in akademischen Fachtermini bis zur Nonsenshaftigkeit zu verschachteln. Er verfällt dann in das Gegenteil populistischer Überzeichnung, mit der die Hochqualifizierten wirken wollen in ihrer Zeit. Er dekretiert, für Durchschnittsleser, Schwerfällige und Unbelehrbare, die es ohnehin nicht lesen werden.

Während seiner Interviews und Sendungen in Funk und Fernsehen vertritt der Autor so eloquent und wirkungsvoll seine Thesen, daß man meinen könnte, darin würde nicht das Buch vorgestellt, sondern das Buch ergänzt und bestätigt die mediale Diskussion, die an sich wohl viel wirksamer im Sinne der Sache ist. Den nachdenklicheren Zeitgenossen spricht er allerdings nicht an. Denn sein Buch macht nicht nachdenklich. Beim Lesen nimmt die Sorge um den Hippocampus zu, jenen Bestandteil des Gehirns, der für die Überführung von Gedächtnisinhalten aus dem Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis wichtig ist.

Dessen Entwicklung geht, wie bei Spitzer zu erfahren ist, dynamisch vonstatten: Neuronen können nachwachsen durch Anforderungen, andernfalls bilden sie sich zurück. Dem Dummerjan von Leser erklärt er den Begriff der Verarbeitungstiefe beim Lernen: „Dabei ist nicht etwas gemeint, daß man nur in einem Bergwerk oder beim Tauchen richtig lernen kann; es geht vielmehr um die geistige Tiefe.“ Spitzner resümiert über einen Jugendlichen, der „den Gutteil seiner Sozialkontakte im Internet abwickelt“, „der hat gute Chancen, daß sein Verhalten sehr zu wünschen übriglassen wird“. So zutreffend solche Aussagen des Ulmer Professors sein mögen, stilistisch lassen sie doch ein wenig zu wünschen übrig.

Widerspruch regt sich beim Lesen, wenn in der Nachfolge von La Mettrie der Mensch als eine komplexe Maschine aufgefaßt wird oder das Nachahmungspotential von Gewaltdarstellungen gewaltig überschätzt wird. Vor zwanzig Jahren gab es einen Zusammenhang von Rechnerbesitz und geistigem Vermögen, der sich heute, wo die Rechentechnik vorrangig der Zerstreuung dient, bequemer ist und bequemer macht, umgekehrt hat. Die ersten Computerbesitzer waren durchaus aufgeweckte Menschen. Die ältere Generation verwaltet per Internet ihre echten Kontakte. Die jüngere ist der Illusion von Allverfügbarkeit in einer Vorstellungswelt aufgesessen. Ihren Facebook-Freundschaften entspricht kein Äquivalent im wirklichen Leben. Und damit die Wogen der Einsamkeit nicht über ihnen zusammenschlagen, bleibt ihnen nur, weiter im digitalen U-Boot durch das Internet zu gleiten.

Wenn wir mit Wissenslücken konfrontiert werden, bauen wir uns keine provisorischen Brücken mehr, sondern wenden uns ruckartig dem Rechner zu. Bei schwierigen Fragen lotet der menschliche Geist nicht mehr in den eigenen Tiefen, es wird an Suchmaschinen und Informationstechnik gedacht. Vor die Herausforderung durch die Frage schiebt sich die Verheißung der Abrufbarkeit einer Antwort.

Das kann in eine Konformität führen, von der wir noch gar keine Vorstellung haben. Vergleiche aus den USA malen den Teufel an die Wand. Aber der Satan und die Krankheit sind keine positiven Qualitäten, sondern nur Beschreibungen der Abwesenheit des Heils und der Gesundheit. Auch durch die Übernahme und Bekräftigung der Terminologie wie „Multitasking“, „Internet-Sucht“, „Soziale Netzwerke“ wird dem Nihilismus, der darin zum Ausdruck kommt, Raum geschenkt. Ein guter Heiler sollte weniger Symptome bekämpfen als dem Rettenden beistehen. Impfungen und Reihenuntersuchungen heilen nicht, sie tragen die Krankheit umfänglicher ins Volk. Wenn man sonst nichts ist, dann bekommt man hier eine Rolle zugewiesen.

Aber wir leben weiter offline und sollten die Phänomene als das bemerken, was sie sind, gespenstisch und entleert, ihnen keine Qualität zubilligen und das Nichtige durch Welthaltigkeit verdrängen. Eine radikale Schlußfolgerung, auf die der Autor seine Leser lenkt, lautet so: Die digitale Bestrahlung wirkt ähnlich wie eine Chemotherapie, nach der kognitive Defizite hinzunehmen sind, weil Neubildung von Zellen im Guten wie im Bösen unterbunden wird. Dem Chemogehirn entspricht das Digi-Gehirn.

Lesungen: Am kommenden Montag (8. Oktober) spricht Manfred Spitzer zum ersten Mal selbst über sein Buch in der Öffentlichkeit. Die Präsentation findet in der Buchhandlung Rupprecht in Wolfratshausen statt. Es folgen bis Ende des Monats Lesungen in Stuttgart, Kirchheim, Schwäbisch Gmünd, Heidenheim und Gießen.

Manfred Spitzer: Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. Droemer, München 2012, gebunden, 368 Seiten, 19,99 Euro

 

Medienkonsum

Im Durchschnitt täglich etwas mehr als sieben Stunden nutzen Neuntkläßler in Deutschland verschiedene Medien wie Fernsehen, Video und DVD, Internet sowie Computerspiele. Zu diesem Ergebnis kommt eine große Untersuchung im Jahre 2009 bei 43.500 Schülern, auf die der Gehirnforscher Manfred Spitzer in seinem Buch „Digitale Demenz“ hinweist. Dabei sei die Nutzung von Handys und MP3-Playern noch gar nicht berücksichtigt. Nach Ansicht von Spitzer sollten solche Studien zum Medienkonsum „im höchsten Maße Anlaß zur Besorgnis geben“. Die mit digitalen Medien verbrachte Zeit hinterlasse Gedächtnisspuren im Gehirn, Lernprozesse veränderten sich, es gebe negative Auswirkungen auf geistig-seelische Prozesse.

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