© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/12 05. Oktober 2012

Würdigung einer Passion
Eine profunde Dokumentation poliert blinde Flecken und korrigiert das geschönte Geschichtsbild des südlichen Tirols
Reinhard Liesing

Bereits im 19. Jahrhundert werden in Italien Ansprüche auf territoriale Ausdehnung bis zum Alpenhauptkamm erhoben. Einer ihrer Wortführer ist Ettore Tolomei, der zur „Erlösung des Vaterlands“ beharrlich auch die Idee der Annexion von Gebieten mit anderssprachiger Bevölkerung verficht. Seine Stunde soll nach dem Ersten Weltkrieg kommen. Als Italien gemäß einem 1915 mit England geschlossenen Geheimvertrag bei Zusicherung einer Gebietsarrondierung gegen Österreich und Deutschland in den Krieg eintritt, steht die Einheit Tirols zur Disposition: In Saint-Germain-en-Laye wird dem Stiefelstaat 1919 der Landesteil südlich des Brenners zugeschlagen.

Nach der Machtübernahme Mussolinis 1922 nimmt der zum Senator erhobene Tolomei seinen Sitz in Bozen, errichtet das „Istituto per l‘Alto Adige“ und beginnt mit der systematischen nomenklatorischen Verwandlung des Gebietserwerbs. Unterricht in deutscher Sprache ist verboten. Wird, wie in „Katakombenschulen“, wohin beherzte deutsche Lehrkräfte mit ihren Schülern auszuweichen versuchen, dagegen verstoßen, zieht dies Inhaftierung und Verbannung nach Sizilien oder zur Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe nach sich. Die Beamtenschaft wird entlassen, in jeder Südtiroler Gemeinde bestimmt fortan der „Podestà“. In Tolomeis Institut werden alle Ortsbezeichnungen ins Italienische „übersetzt“. Er veranlaßt, daß deutsche Familien- und Vornamen italianisiert werden, sogar jene auf Grabsteinen. Sein Ziel ist, alles zu tilgen, was auf gut 1100 Jahre Deutschtum hinweist.

In Rom verspricht Hitler 1938 seinem Achsenpartner Mussolini: „Es ist mein unerschütterlicher Wille und mein Vermächtnis an das deutsche Volk, daß es die von der Natur uns beiden aufgerichtete Alpengrenze immer als eine unantastbare ansieht.“ Berlin und Rom schließen ein Umsiedlungsabkommen. Südtiroler haben bis zum 31. Dezember 1939 die „Wahl“, sich bei Aufgabe ihres Volkstums für den Verbleib in der Heimat zu entscheiden oder für das Reich zu optieren: 211.799 „wählen“ die deutsche Staatsbürgerschaft, 34.237 entscheiden sich fürs Bleiben. Tatsächlich wandern „nur“ etwa 75.000 ab: Die Umsiedlung kommt infolge des Kriegsverlaufs zum Erliegen oder erübrigt sich wegen der faktischen Zugehörigkeit Südtirols zwischen 1943 und 1945 zum Deutschen Reich.

Am 5. September 1946 kommt es – statt der von der 1945 gegründeten Südtiroler Volkspartei (SVP) verlangten Selbstbestimmung – in Paris zu einem zwischen dem österreichischen Außenminister Karl Gruber und dem italienischen Ministerpräsidenten Alcide Degasperi vereinbarten Schutzvertrag für das neuerlich Italien überantwortete Gebiet. Er sichert den Südtirolern Maßnahmen zur Erhaltung ihres Volkscharakters sowie der kulturellen Entfaltung zu. Dazu zählen Unterricht in der Muttersprache, Gleichstellung der deutschen mit der italienischen Sprache, Gleichberechtigung bei der Einstellung in den öffentlichen Dienst, Revision der Option und Selbstverwaltung der Provinz Bozen-Südtirol.

Im 1948 von Rom erlassenen Autonomiestatut werden jedoch die Provinzen Bozen und Trient zur Region Trentino-Südtirol gefügt. Damit sind aufgrund ethnischer Verhältnisse die Deutschsüdtiroler majorisiert – nach Auffassung Bozens und der „Schutzmacht“ Österreich vertragswidrig – und ist die politische Selbstverwaltung Südtirols zugleich ad absurdum geführt. Wegen der zudem forcierten Ansiedlung von Italienern und der damit verbundenen „Unterwanderung der Heimat“ lehnt sich die „Sammelpartei der deutsch- und ladinischsprachigen Südtiroler“ unter Silvius Magnago dagegen auf und fordert mit Unterstützung Wiens auf der von 35.000 Teilnehmern besuchten Kundgebung von Sigmundskron 1957 das „Los von Trient“.

Da alle Proteste nichts fruchten, wirft der damalige österreichische Außenminister, Bruno Kreisky, die Südtirol-Frage 1959 vor den Vereinten Nationen (UN) auf. In einer Entschließung werden beide Staaten aufgefordert, den Konflikt auf dem Verhandlungswege zu beseitigen. Anschließende Treffen der Außenminister enden ergebnislos. Da der UN-Vorstoß Wiens zu keiner Änderung im Verhalten Roms führt, entschließen sich Idealisten des „Befreiungsausschusses Südtirol“ (BAS) zu Gewaltakten auf öffentliche Einrichtungen, bei denen man indes peinlichst auf Schonung von Menschenleben achtet.

In der Nacht vom 11. zum 12. Juni 1961 hallt die Sprengung von 47 Strommasten rund um Bozen wider. Diese „Feuernacht“ erweist sich in vielerlei Hinsicht als „große Zäsur“: Rom verhängt den Ausnahmezustand über die Provinz und entsendet zusätzliche 20.000 Soldaten nach Südtirol, das sich in den Mittelpunkt der europäischen Aufmerksamkeit gerückt sieht. Das ist eines der Ziele der „Bumser“, wie die BAS-Aktivisten im Volksmund in lautmalerischer Benennung des Detonationsvorgangs genannt werden. Was folgt, ist die Verhaftung von 140 BAS-Leuten, Freiheitskämpfern, die in Carabinieri-Kasernen, Gefängnissen und Geheimdienstkellern schwere Mißhandlungen und Folterungen erleiden, zwei Gepeinigte verlassen die Verliese als Tote.

Publikationen zur Tirol-Frage füllen Regalmeter. Nicht immer zeugen Befunde und Erträge von lauterer, also objektivierbarer und umfassender Durchdringung der Geschehnisse und Abläufe. Da gibt es selbst in der angesehenen Historikerzunft – trotz Rückgriffs auf eine immense Materialfülle, wie beispielsweise im zumindest in Südtirol umstrittenen Werk des emeritierten Innsbrucker Zeitgeschichtlers Rolf Steininger – immer noch „blinde Flecken“ im Spiegel sowie die Theorie störende „Auslassungen“, mitunter auch Verdrehungen von Sachverhalten.

Dies trifft vornehmlich auf die Anschläge-Phase der sechziger Jahren zu, welche das hier anzuzeigende Buch besonders genau beleuchtet. Helmut Golowitsch, der Verfasser, gehört der Erlebnisgeneration an, als Aktivist am Südtiroler Freiheitskampf wird er 1961 in Trient verhaftet. Die österreichische Staatsbürgerschaft bewahrt ihn vor teilweise viehischen Folterungen durch italienische Organe, wie sie Südtiroler durchmachen, die er in Untersuchungshaft kennenlernt.

Minutiös dokumentiert Golowitsch das Schicksal aller nach der „Feuernacht“ zum Herz-Jesu-Fest 1961 der Verhaftungswelle Anheimgefallenen und die damit verbundenen Gewaltexzesse. Wer wie Abgeordnete der italienischen Rechten im Südtiroler Landtag den Standpunkt vertritt, Folterungen seien nie bewiesen worden, möge sich die in Golowitschs Buch veröffentlichten Schilderungen zu Gemüte führen. Die Häftlinge werden schwer malträtiert. Ohne Essen und Schlaf müssen sie 60 Stunden lang mit erhobenen Händen nackt in Habtachtstellung vor den verhörenden Beamten stehen und Gewehrkolbenhiebe über sich ergehen lassen. Sepp Mitterhofer, später Obmann des Südtiroler Heimatbunds (SHB), in dem die meisten der einstigen Aktivisten nach der Haftentlassung zusammenfanden, berichtet von Stromstößen und Mißhandlungen an den Genitalien sowie anderen Torturen. Wer sie übersteht – und nicht, wie Franz Höfler aus Lana bei Meran, während der Verhörfolter in der Carabinieri-Kaserne von Eppan sein Leben verliert, oder wie Toni Gostner, der ein halbes Jahr nach der Folterung an den Folgen im Gefängnis stirbt –, der trägt die daraus erwachsenen Gebrechen und Narben physisch wie psychisch sein Leben lang mit sich herum.

Golowitsch hat in einschlägigen Archiven geforscht, vornehmlich im SVP-Archiv, das im Südtiroler Landesarchiv verwahrt ist, wo ein Großteil der seinerzeit an Parteiobmann und Landeshauptmann Magnago weitergeleiteten Berichte über erlittene Torturen verwahrt ist. Zwar wird aufgrund einer Strafanzeige in Trient ein Verfahren gegen elf Verhör-Beamte eröffnet. Doch die Prozeß-Farce endet mit der Begründung, die Häftlinge hätten sich die Verletzungen selbst zugefügt, mit Freispruch der Carabinieri, die schließlich sogar Auszeichnungen erhalten und befördert werden. 94 angeklagte BAS-Aktivisten hingegen werden in einem Prozeß in Mailand zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, die bürgerlichen Ehrenrechte (aktives und passives Wahlrecht, das Bekleiden öffentlicher Ämter) werden ihnen für dreißig Jahre aberkannt. Über ihre Habe wird eine Kollektivschuld von jeweils einer Milliarde Lire (nach heutigem Wert 500.000 Euro) in Form einer Hypothek verhängt, die auch auf die Erben übergeht.

Nunmehr erstmals veröffentlichte Dokumente belegen, daß die offizielle Politik auf österreichischer und Südtiroler Seite – namentlich Kreisky und Magnago – Folterbriefe unterdrückt hatte, um sie für politische Tauschgeschäfte verwenden zu können. Golowitsch zeigt damit überdies eine wenig bekannte Seite des später als „Vater der Autonomie“ gerühmten Magnagos. Erst 1991 würdigt Magnago jene, die durch Sprengstoffanschläge drei Jahrzehnte zuvor auf die Lage der Südtiroler aufmerksam machten: sie hätten damit einen Beitrag geleistet auf dem steinigen Weg zur Autonomie.

Die vorliegende, gegenüber der Erst-erscheinung 2009 erheblich auf gut 800 Seiten erweiterte Neuauflage, ausgestattet mit historischem Fotomaterial und Faksimile-Wiedergaben von Briefen Inhaftierter enthält Kapitel, in denen einem Mordfall nachgegangen wird, der von den italienischen Behörden stets den Südtiroler Freiheitskämpfern in die Schuhe geschoben und wie dabei gerichtliches Beweismaterial unterschlagen wurde. Golowitsch läßt Zeugen zu Wort kommen, die es nach Jahrzehnten erstmals wagen, sich öffentlich zu äußern, woraus sich verborgene Hintergründe eröffnen. Sodann weist er anhand erstmals beigezogener österreichischer und italienischer Akten sowie forensischer Gutachten und Spurensicherungsergebnisse nach, daß es sich bei Anschlägen in Wien, Ebensee, Traunkirchen sowie auf dem Bergisel bei Innsbruck um Taten italienischer Neofaschisten und eben nicht um „provokative Anschläge des BAS“ handelte, wie dies der Historiker Leopold Steurer behauptet hat.

Und es gelingt Golowitsch, die Kritik vornehmlich aus Kreisen der Erlebnisgeneration an Positionen Steiningers beweiskräftig zu untermauern, womit er dessen „Erkenntnisse“ entkräftet. Darunter fällt etwa Steiningers These, wonach nicht die Aktivitäten der Freiheitskämpfer Rom zum Nachgeben veranlaßt und die Entwicklungsprozesse hin zur Autonomie einen positiven Fortgang nur deshalb genommen hätten, weil es „keine realistische Alternative gegeben“ habe. Die Autonomiekommission sei daher (Steininger zufolge) „nicht wegen, sondern trotz der ‘Feuernacht’ von 1961“ zustande gekommen.

Helmut Golowitsch: Für die Heimat kein Opfer zu schwer. Südtirol 1961–1969, 2. Auflage. Edition Südtiroler Zeitgeschichte, Zirl/Tirol 2012, gebunden, 813 Seiten, Abbildungen, 28,50 Euro

Foto: Zum 25. Jahrestag der Herz-Jesu-Nacht wird 1986 in Laas die Selbstbestimmung Südtirols angemahnt: Torturen für den Freiheitskampf

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