© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/12 12. Oktober 2012

Die Welt aus den Fugen
Konfliktherd Nahost: Die Politik des Westens ist inkonsequent und fahrlässig
Peter Scholl-Latour

Die chaotischen Vorgänge in der arabisch-islamischen Welt machen deutlich, wie sehr die Welt aus den Fugen geraten ist. Es gibt keine Ordnung mehr, auch keine Ordnung im negativen Sinne. Früher gab es das Gleichgewicht des Kalten Krieges. Später hatte man gemeint, daß die großen Machtblöcke eine neue Ordnung schaffen könnten, die multipolar wäre. Doch die alten und die neuen Mächte haben jede Kontrolle verloren. Weder Amerika noch Rußland oder China – von Europa ganz zu schweigen – sind in der Lage, eine stabile Ordnung zu schaffen oder auch nur untereinander zu einem vernünftigen Verhältnis zu kommen.

Wie nahezu selbstmörderisch die westliche Politik ist, zeigt sich aktuell gerade gegenüber Syrien. Ich kenne Syrien seit 1951, das Land ist von einer Diktatur in die andere gestolpert. Es ist dabei immer sehr blutig zugegangen. Das Assad-Regime war eine Diktatur, und sie war extrem brutal. Aber als der Vater des jetzigen Präsidenten, Hafiz al-Assad, die Macht übernommen hatte, war der Westen noch ganz erleichtert, weil er einen Feldzug gegen Jordanien verhindert hatte. Daß er gegen die sunnitische Mehrheit, die sich gegen ihn erhoben hatte, gewaltsam vorgegangen ist und mit extremer Brutalität regierte, bestreitet niemand; doch damit steht er ja nicht allein, das gab und gibt es auch in anderen Staaten auf dem gleichen Niveau.

Der jetzige Präsident Baschar al-Assad ist im Grunde ein Gefangener der Situation, in die er geraten ist. Er ist der arabischen Tradition und Überlieferung zufolge gezwungen, zu seinem Clan, zu seiner Familie und vor allem zu seiner religiösen Minderheit, den Alawiten, zu stehen, die in Syrien führende Positionen in der Wirtschaft, der Verwaltung sowie der Armee innehaben. Gemessen an orientalischen Verhältnissen wurde das Land zuletzt auf einem relativ vernünftigen Niveau regiert.

Es herrscht bei uns eine flagrante Heuchelei, gipfelnd in einer höchst bizarren Koalition, die sich gegen das Assad-Regime bildete: aus den USA, der Türkei, die ihr Vorgehen auf die Spitze treibt, und vor allem aus Saudi-Arabien, das Söldner und Freiwillige in der ganzen Welt anwirbt und finanziert. Diese Kräfte sammeln sich ja nicht, um den Syrern die Freiheit zu garantieren oder sie von der Tyrannei zu erlösen, sondern es geht darum, den Iran zu schwächen und die amerikanische Vorherrschaft am Persischen Golf zu konsolidieren; beziehungsweise zu verhindern, daß Saudi-Arabien ebenfalls in eine revolutionäre Atmosphäre abgleitet.

Es herrscht im Westen gegenüber Iran geradezu eine Obsession. Falls Teheran bisher nicht die Absicht hatte, eine Atombombe zu bauen, sondern sich darauf beschränken würde, Atomenergie nur für zivile Zwecke zu erzeugen, würde die Islamische Republik Iran durch die jetzige Haltung des Westens geradezu gedrängt, eine nukleare Waffe zu entwickeln. Aus Kenntnis dieser Lage würde ich die iranische Atombombe, wenn sie wirklich entstehen sollte, als weniger gefährlich betrachten als die pakistanische, die bereits existiert und über die wir überhaupt keine Kontrolle haben. 

Die westliche Vorstellung besagt nun, daß der atomar aufgerüstete Iran Israel vernichten will. Das entspricht keineswegs der Realität, denn Teheran will sich die Atombombe als Abschreckungswaffe zulegen, so wie jeder andere Staat sich die Atombombe zugelegt hat. Sogar die Nordkoreaner haben ja keinen Nuklearkrieg vom Zaun gebrochen. Den Machthabern im Iran ist klar, daß der tatsächliche Einsatz einer Atombombe die totale Auslöschung des Landes durch die Amerikaner und die Israeli bedeuten würde.

Die Europäer steigern sich in Entrüstung, wenn sie von Syrien sprechen. Sie sind mit ihrer Politik dabei, das einzige noch verbliebene säkulare Regime in der arabischen Welt zu stürzen. Was aber wird an dessen Stelle rücken? Das werden nicht die syrischen Intellektuellen sein, die seit Jahrzehnten in Europa leben, auch nicht die Offiziere, die sich in die Türkei abgesetzt haben, sondern das werden die harten Burschen der Salafisten sein, Anhänger der intoleranten religiösen Auslegung des Islam, die die Saudis praktizieren. Es wird dann also in Damaskus ein islamischer Gottesstaat entstehen, der extrem radikal sein wird. Und von dem auch für die Israeli eine größere Gefahr ausgehen wird als vom jetzigen Regime.

Die Chinesen handeln nach dem Grundsatz: Wir mischen uns in die Angelegenheiten anderer Länder nicht ein. Das ist immerhin ehrlicher als die westlichen Parolen von Demokratie und Freiheit. Denn dort, wo ein Regime wirtschaftlich und politisch dem Westen gefügig ist, beispielsweise in Saudi-Arabien, dem reaktionärsten islamischen Staat, werden extreme Mißstände geduldet. Falls sich ein Land des Orients dem Westen gegenüber jedoch nicht wohlgesonnen zeigt und sich seinem System verweigert, wird es schnell als terroristischer Staat deklariert und in die Riege der „bad boys“ eingereiht.

 

Prof. Dr. Peter Scholl-Latour ist Journalist, Publizist und Nahost-Experte. Für die JUNGE FREIHEIT schrieb er zuletzt in der Ausgabe 30-31/12. Soeben erschien bei Propyläen sein jüngstes Buch „Die Welt aus den Fugen“.

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