© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/12 12. Oktober 2012

„Da tat der Mann mir wirklich leid“
Interview: Thorsten Hinz über seinen neuen Essay zu Richard von Weizsäcker, über Geschichtspolitik, Aristokraten – und Selbstkritik
Christian Vollradt

In Kürze erscheint das neue Buch des Publizisten Thorsten Hinz. In „Der Weizsäcker-Komplex“ geht er der Frage nach, inwieweit Richard von Weizsäcker die allgegenwärtige deutsche Vergangenheitsfixierung nachhaltig beeinflußt hat. Der Essay, der auszugsweise vorab in der JUNGEN FREIHEIT erscheint (siehe Seite 25), ist aber auch ein kritisch-sentimentaler Rückblick auf einen letzten Vertreter der alten Oberschicht.

Herr Hinz, das Ende der Amtszeit Richard von Weizsäckers liegt inzwischen fast 20 Jahre zurück, mittlerweile ist sein fünfter Nachfolger im Amt: Ist das nicht ein etwas zu großer Abstand, um sich noch an diesem Altpräsidenten abzuarbeiten?

Hinz: Gegenfrage: Wer kennt seine Nachfolger noch? Von Roman Herzog, Johannes Rau und Horst Köhler weiß man kaum mehr die Namen. Von Christian Wulff schweigen wir besser. Und ob Joachim Gauck am Ende mehr zu bieten hat als blumige Freiheitsrhetorik, muß sich erst noch zeigen. Richard von Weizsäcker war von ganz anderem Kaliber. Er hat als Bundespräsident eine politische Spur gezogen, die über seine Amtszeit hinausreicht. Konkret meine ich die Rede, die er am 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes im Bundestag hielt. Darin hat er die „Vergangenheitsbewältigung“, die in Wahrheit ein obsessiver Moralismus ist, zur immerwährenden Aufgabe erklärt. Die Rede ist millionenfach verbreitet, rezipiert und – wörtlich! – zur „Magna Charta“ der deutschen Nachkriegsidentität erklärt worden. Heute befindet sich das Land im Zustand fortgeschrittener Geschichtsamnesie. Wenn von „deutscher Vergangenheit“ oder „Geschichte“ die Rede ist, wird spontan an die Zeit des Nationalsozialismus gedacht. Alles andere wird auf seine Vor- oder Nachgeschichte reduziert.

Ist das nicht ein bißchen zuviel Verantwortung, die Sie ihm zuweisen?

Hinz: Natürlich hat Weizsäcker diese Entwicklung nicht allein zu verantworten. Sie hatte sich seit Ende der fünfziger Jahre vorbereitet, aber er hat das präsidiale Siegel daruntergesetzt und ihr den Anschein ihrer objektiven Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit verliehen. Daß ihm das gelang, hatte nicht nur mit seinem Amt zu tun. Noch wichtiger war sein Charisma, und das wiederum hing mit seiner Herkunft aus gutem Hause, aus einer altehrwürdigen Familie zusammen. Ich habe übrigens nicht das Gefühl gehabt, mich an Richard von Weizsäcker abzuarbeiten. Ich habe die Familiengeschichte gelesen wie einen spannenden Roman.

Das Wort „Komplex“ hat ja mehrere Bedeutungen; vulgärpsychologisch steht er für eine Macke – ist das beabsichtigt?

Hinz: Ja, aber das ist nur ein Teilaspekt. Zunächst geht es in der Tat um individuelle, um Familien- und Kollektivkomplexe, um etwas, womit man nicht fertig wird. Man muß sich das einmal vorstellen: Eine Familie, die auf eine lange Generationenabfolge zurückblickt, die von Generation zu Generation auf der gesellschaftlichen Stufenleiter höher geklettert ist, muß plötzlich damit zurechtkommen, daß ihr Familienoberhaupt als Kriegsverbrecher verurteilt und ins Zuchthaus gesteckt wird. Der Sohn, knapp 40 Jahre später zum Präsidenten gewählt, belehrt nun das Staatsvolk darüber, daß es sich faktisch im Zustand einer geschichtlichen Erbsünde befindet. Das Volk beugt sich seiner scheinbaren Überlegenheit, obwohl es fühlt, daß die Predigt den eigenen Erfahrungen widerspricht. Auf der anderen Seite geht es um die Beschreibung politischer und geschichtlicher Zwangslagen, die es verbieten oder gefährlich machen, Gerichtsurteile oder Schuldzuschreibungen anzuzweifeln. Das führt zur Moralisierung von Geschichte und Politik. Als moralisch und intellektuell wertvoll gilt, wer sich den verhängten Ratschlüssen unterwirft, sie affirmiert. Eine trostlose Lage.

Die Familie von Weizsäcker hat, so schreiben Sie, die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert maßgeblich mitgeprägt „vor allem als Handelnde, denen die Konsequenzen ihres Handelns am Ende entglitten“. Was meinen Sie damit?

Hinz: Die Familie hat stets danach gestrebt, eine öffentliche Rolle zu spielen. Richard von Weizsäckers Großvater war bis 1918 Ministerpräsident im Königreich Württemberg und sogar als Reichskanzler im Gespräch. Der Vater, Ernst von Weizsäcker, war von 1938 bis 1943 Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Er wollte unter allen Umständen den Kriegsausbruch verhindern.

Wie das?

Hinz: Sein Plan war, Außenminister Ribbentrop an die kurze Leine zu nehmen und Hitler außenpolitisch zu lenken. Sein Sohn Carl Friedrich, der Atomphysiker und Philosoph, Richards Bruder, träumte früh von einem Weltkaiser, der über die Atomkraft gebietet und die Menschheit in die richtige Bahn zwingt. Das Ergebnis: Der Ministerpräsident mußte im Verlauf der Novemberrevolution zurücktreten, die aus der Kriegsniederlage folgt. Der Staatssekretär verbrachte mehrere Jahre im Gefängnis, der Atomphysiker wurde von den Briten interniert. Ernst von Weizsäcker hat aus dem Gefängnis geschrieben, er habe sich eine Aufgabe zugetraut, die ihn überforderte. Er scheiterte nicht allein an Hitler, sondern auch an den weltpolitischen Konstellationen. Die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs war, wie zuletzt Stefan Scheil nachgewiesen hat, eine internationale Angelegenheit. So ist die Familiengeschichte auch ein Paradigma für das politische Scheitern Deutschlands im 20. Jahrhundert. Ich glaube auch, daß Richard von Weizsäcker die obsessiven Auswirkungen seiner 8.-Mai-Rede nicht gewollt hat.

Sie meinen nach dem Motto: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los“?

Hinz: Im Buch gebe ich die Möglichkeit zu bedenken, daß die Rede und ihre Zentrierung auf den Holocaust der  Preis waren, mit dem er sich eine Kampagne ersparte, die kurz darauf über seinen österreichischen Amtskollegen Kurt Waldheim hereinbrach. Waldheim hatte die Bußexerzitien verweigert. Die Waldheim-Kampagne, die sich an vermeintlichen Kriegsverbrechen entzündete, war völlig haltlos. Bei Richard von Weizsäcker gab es den Versuch, ihm die Geschichte des Vaters und seine Rolle als dessen Verteidiger vorzuwerfen. Unter Hinweis auf die Rede wurde er abgeblockt.

Werfen Sie Richard von Weizsäcker vor, daß er das deutsche Volk quasi in Kollektivhaftung zur Bewältigung seiner eigenen Vergangenheit genommen hat?

Hinz: Ja, aber ich versuche zugleich, seine Haltung zu erklären. Sein Vater ist 1949 im sogenannten Wilhelmstraßen-Prozeß zu sieben, dann zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden, weil er im März 1942 ein Schriftstück zur Deportation von Juden aus Frankreich nach Auschwitz abgezeichnet hatte. Das bleibt ein dunkler Punkt der Familiengeschichte. Vor allem aber hat die Verstrickung in die Judenverfolgung ein tiefes Schuldgefühl ausgelöst. Die Schuld aber ist eine tragische, weniger eine justitiable.

Inwiefern tragisch?

Hinz: Hätte Weizsäcker die Unterschrift verweigert, wären die Deportationen trotzdem erfolgt. Er hätte jedoch seinen Posten und damit die Möglichkeit verloren, tätig zu werden, falls sich Chancen für einen Friedensschluß eröffneten. Nur die Beendigung des Krieges, so seine Überzeugung, konnte die jüdische Tragödie stoppen. Nimmt man diesen Standpunkt ernst, dann bedeutete das Ausscheiden aus dem Amt eine noch größere Schuld als die geleistete Unterschrift. Außerdem ist zu bedenken, daß die – um den Begriff Heideggers zu benutzen – „Fabrikation der Leichen“, die Selektionen und so weiter, die sich mit Auschwitz verbinden, erst einige Monate später begannen, Ernst von Weizsäcker davon also gar nichts wissen konnte.

Was bedeutet das mit Blick auf seinen Sohn?

Hinz: Hätte Richard von Weizsäcker diese Gesichtspunkte offensiv vorgetragen, wäre er mit seiner politischen Karriere schnell am Ende gewesen. Die Gerichtsurteile der Alliierten, die Interpretation der Ursachen und des Verlaufs des Krieges sind bekanntlich sakrosankt. Darin drücken sich politisch-ideologische Machtverhältnisse aus. Weizsäcker hat sie akzeptiert und dann versucht, innerhalb dieses windschiefen Ordnungsrahmens die Ehrenrettung des Vaters und des Familiennamens vorzunehmen. Er hat die Geschichte enthistorisiert und zu einer theologischen Angelegenheit gemacht. Vor allem, indem er die Ermordung der Juden in den Rang des Numinosen erhob. Er hielt das wohl für gottgefällig, doch war es auch ein Kniefall vor dem veränderten Zeitgeist. Dafür spricht, daß er 15 Jahre zuvor, am 8. Mai 1970, schon einmal im Bundestag eine Rede zum Kriegsende gehalten hatte. Der Holocaust kommt darin nicht vor.

Ihr Buch trägt den Untertitel „politische Archäologie“. Mußten Sie wie bei einer Ausgrabung Schicht für Schicht freilegen, um den politischen Weizsäcker unter dem Mythos Weizsäcker zu identifizieren?

Hinz: Ursprünglich ging es mir nur um die Geschichtspolitik, die in Deutschland intensiver als anderswo mit der praktischen Politik verbunden ist. Von dort wurde ich zwanghaft zur Individualpsychologie und zur Familiengeschichte geführt. Und die führt zurück ins 19. Jahrhundert, ins Kaiserreich, in die Weimarer Republik, ins Dritte Reich. Es ergaben sich soziologische Fragestellungen – Stichwort Elitebildung –, Fragen nach kulturellen Prägungen, gesellschaftlichen Distinktionen, Umgangsformen und nach Vernetzungen, die über Generationen reichen und bis heute anhalten. Das alles konstituiert den „Mythos“, und erst wenn man dessen Bestandteile kennt, erfaßt man die politische Dimension der Person.

Richard von Weizsäcker wurde in dieser Zeitung – auch von Ihnen – immer wieder harsch kritisiert. Der ehemalige CDU-Politiker und Weizsäcker-Vertraute Friedbert Pflüger schreibt in einem seiner Bücher, solche „rechten“ Angriffe seien „selten ohne Breitenwirkung“ geblieben. Sind wir in der Vergangenheit mit unserer Kritik übers Ziel hinausgeschossen?

Hinz: Im Vorwort übe ich ja ausdrücklich Selbstkritik. Wenn man sich – wie wir – in einer objektiv schwachen Abwehrposition befindet, ist man geneigt, den Arrivierten, dem man politisch nichts anhaben kann, wenigstens der Heuchelei zu überführen. Das ist bei einem Schönredner wie Richard von Weizsäcker ziemlich leicht. Aber man begreift keine Person, indem man sich ausschließlich auf ihre Fehler fokussiert. Man verfehlt ihre Stärken, ihre Tragik, auch das Sympathische an ihr. Man verfehlt die Zeitumstände, in die sie gestellt ist. Trotzdem bleibt mein kritischer Grundimpuls. Ich habe immer wieder gestaunt, wie die aristokratische Attitüde mit Kleinlichkeit einhergeht, etwa gegenüber Ernst Nolte, Kurt Waldheim oder Martin Walser, Persönlichkeiten also, die ihm auf unterschiedlichen Gebieten überlegen sind.

Hat das „mildere Licht“, in dem Sie von Weizsäcker darstellen, auch mit Ihrem persönlichen Erlebnis im Februar 2008 zu tun? Können Sie uns das schildern?

Hinz: Im Februar 2008 habe ich in Berlin die Premiere von Händels Oper „Theseus“ besucht. In der Inszenierung ging es ziemlich blutig zu. Von meinem preiswerten Seitenrang hatte ich einen guten Blick auf die Mittelloge, in der Richard von Weizsäcker saß. Kurz vor der Pause wurde auf der Bühne ein Plakat „Soldaten sind Mörder“ gezückt. Instinktiv blickte ich zu Weizsäcker hinüber, der wie erstarrt wirkte. Nach der Pause war er verschwunden. Wissen Sie, da tat der Mann mir wirklich leid. Er mußte mit 19 Jahren in den Krieg, am zweiten Kriegstag fällt sein Bruder, den er begräbt, er selber überlebt mit viel Glück – und dafür nun der Hohn des Vaterlands durch einen billigen Theatereffekt.

Weizsäcker war der „Wiedervereinigungspräsident“. Andererseits hat er zuvor als CDU-Politiker sowie als Kirchentagspräsident häufig die DDR besucht und dabei auch das Gespräch mit den Offiziellen des SED-Staats gesucht. Kann man von Weizsäcker trotzdem – oder gerade deswegen – als einen Patrioten bezeichnen?

Hinz: Selbstverständlich! Herkunftsbedingt habe ich seine Reden, Aufsätze und Artikel auch durch die DDR-Brille gelesen. Und der rote Faden, der sie von Anfang an, etwa ab 1960, durchzog, lautete: Wir müssen mehr für die Landsleute in der DDR tun! Wir können die Einheit jetzt zwar nicht erzwingen, aber sie bleibt unser Ziel! Ich habe noch die Fernsehbilder vom November 1989 in Erinnerung. In Weizsäckers Gesicht stand die pure Freude.

Richard von Weizsäcker ist bis jetzt der letzte Bundespräsident, der zwei volle Amtsperioden an der Spitze des Staates stand; und laut Umfragen nach wie vor der beliebteste. Hat er mit seiner Art und seinem adligen Stil die Sehnsucht der Deutschen nach einem über den Parteien stehenden (Ersatz-)Monarchen befriedigt?

Hinz: Nun muß ich doch noch auf Christian Wulff zurückkommen: Richard von Weizsäcker hat die Sehnsucht in dem Maße erfüllt, wie der Plebejer Wulff sie enttäuscht hat.

 

Thorsten Hinz, er sei „das eigentliche Alpha-Tier der deutschen politischen Publizistik“ – dieser inoffizielle Titel wurde Thorsten Hinz voll Anerkennung vom Schriftsteller und Journalisten Michael Klonovsky verliehen. Von 1997 bis 1998 war Hinz Kulturredakteur der JUNGEN FREIHEIT, seither arbeitet er als freier Autor und steht im Dauereinsatz für diese Zeitung. Unter anderem dafür wurde er 2004 mit dem Gerhard-Löwenthal-Preis für Journalisten ausgezeichnet. Hinz, geboren 1962 in Mecklenburg, studierte in Leipzig Germanistik und  versteht es als gelernter DDR-Bewohner, die politischen Realitäten untergehender Systeme zu erkennen, zu bewerten und exzellent zu beschreiben.

Thorsten Hinz: Der Weizsäcker-Komplex. Eine politische Archäologie. Edition JF, Berlin 2012

Foto: Thorsten Hinz in der JF-Redaktion: „Erst wenn man den Mythos in seine Bestandteile zerlegt hat, erfaßt man die politische Dimension.“

 

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