© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/12 12. Oktober 2012

Tanz auf dem Vulkan
Türkisch-syrischer Konflikt: Ankara ist im Spiel um die Macht im Nahen Osten kein Zuschauer mehr, sondern längst Hauptakteur
Günther Deschner

Wir müssen, wenn es notwendig wird, in jedem Moment für einen Krieg bereit sein“, so donnerte der türkische Ministerpräsident Recep T. Erdoğan letzten Sonntag in einer Brandrede. Adressaten seiner markigen Worte waren nicht nur die Türken, sondern mehr noch die Regierung Syriens. Denn die syrische Grenzregion hin zur Türkei ist seit Monaten Schauplatz heftiger Kämpfe zwischen regulären syrischen Truppen und Aufständischen der sogenannten „Freien Syrischen Armee“. Seit vergangene Woche aus Syrien abgefeuerte Granaten im türkischen Grenzort Akçakale einschlugen und fünf Menschen töteten, haben türkische Kampfflugzeuge und Artillerie mehrfach syrische Stellungen unter Feuer genommen.

Noch vor eineinhalb Jahren, bei einem Treffen in Aleppo, traten die Regierungschefs der beiden wichtigsten Staaten der Region als Partner auf – und Assad wurde von Ankaras Regierungschef Erdoğan noch als „Freund“ bezeichnet. Doch die „Freundschaft“ ist lange abgekühlt: Schon seit rund einem Jahr, seitdem sich die Demonstrationsbewegung gegen die unbeweglich-autoritäre Regierung von Bashar al-Assad zu einem blutigen Bürgerkrieg ausgeweitet hat, setzt Ankara offen auf einen Sturz des „Freundes“ von gestern.

Erdoğan und seine Gefolgschaft in der Regierungspartei AKP wittern in der Erosion der Staatsmacht in Syrien die Chance, den türkischen Einfluß in der Nahost-Region auszuweiten.Wie Saudi-Arabien und Katar setzt die nationalsunnitische Regierung Erdoğans auf den Sieg der sunnitischen Opposition gegen das alawitische, mit dem schiitischen Iran verbündete Syrien.

Der Versuch, die Türkei als die bestimmende Führungsmacht eines sunnitisch dominierten Nahen Ostens zu etablieren, wurde jüngst auf dem Parteitag von Erdoğans AKP illustriert: Neben dem vor einem Monat in Bagdad in Abwesenheit zum Tode verurteilten irakischen Vizepräsidenten Tarik al-Haschemi, dem Führer der sunnitischen Minderheit im Irak, traten auch Hamas-Führer Chalid Maschaal und der neue ägyptische Präsident und Muslimbruder Mursi auf.

Die Politik der türkischen Regierung gegenüber Syrien illustriert diesen „neo-osmanischen“ Machtanspruch: Die Türkei hat bereits 100.000 Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen und verlangt seit Monaten von der „internationalen Gemeinschaft“ die Schaffung sicherer Pufferzonen auf der syrischen Seite sowie die Erzwingung von Flugverbotszonen für Assads Luftwaffe.

Erdoğans Türkei ist auch selbst aktiv in den Krieg gegen Damaskus verstrickt. Syrische Aufständische operieren von türkischem Territorium aus, sie haben dort Ruheräume und Ausbildungslager. Syriens Regierung wirft Ankara auch vor, den Waffennachschub für die Aufständischen und die Einreise von Dschihadisten aus Afghanistan, Pakistan und Libyen nach Syrien zu begünstigen.

Auf allen Ebenen also ist das Verhältnis zwischen Ankara und Damaskus derzeit so angespannt wie an der Schwelle zu einem heißen Krieg. Selbst türkische Kommentatoren nennen es immer häufiger „irreparabel zerstört“. Militärisch gesehen, ist die Situation explosiv. Bereits seit dem Abschuß einer türkischen Militärmaschine durch Syriens Luftabwehr im Juni sind türkische Truppen entlang der Grenze zu Syrien in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Schon damals hatte Erdoğan mit markigen Worten klargestellt, daß seine Armee „jeden Angriff auf unser heiliges türkisches Territorium“ nicht unbeantwortet lassen würde.

Wie schon nach dem Flugzeugabschuß versuchte Ankara auch nach den Vorfällen in Akçakale Unterstützung für eine Vergeltungsaktion gegen Syrien zu mobilisieren. Doch der Nato-Rat signalisierte in einer Dringlichkeitssitzung einstweilen nicht mehr als verbale Assistenz, der Weltsicherheitsrat kam ebenfalls zusammen, doch eine Verurteilung Syriens scheiterte in dem Uno-Gremium  an den Bedenken Rußlands.

Mit der Mehrheit der AKP hat das türkische Parlament inzwischen einem Antrag des Kabinetts zugestimmt, mit dem „grenzüberschreitende militärische Interventionen“ legitimiert werden. Der „Vorratsbeschluß“ gibt Erdoğan die Erlaubnis, künftig „im nahen Ausland“ militärisch zuzuschlagen, ohne das Parlament vorher befragen zu müssen.

Dennoch ist es naheliegend, daß sowohl die Türkei als noch mehr auch Syrien es vermeiden werden, die Vorfälle zu einem Krieg ausarten zu lassen. Syrien hat mehr als genug mit seinem Bürgerkrieg zu tun. Und die Türkei wird daran kein Interesse haben, solange sie die Last eines Krieges allein tragen müßte. Doch ob „heißer“ oder „kalter“ Krieg: Das Ziel, den Führungsanspruch der Türkei im Nahen Osten durchzusetzen, wird Ankara weiter anvisieren.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen