© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/12 12. Oktober 2012

„Sein Traum war die GSG 9“
Hetzjagd: Ein Jahr nach dem tödlichen Angriff auf Giuseppe Marcone spricht die Mutter über ihr Leid und ein geplantes Denkmal für ihren Sohn
Henning Hoffgaard

Irgendwann platzt es aus Vaja Marcone heraus. „Warum hat er nicht mal ausgeholt. Einfach mal ausgeholt“, sagt sie und ballt die Hand zur Faust. Ein wenig erschöpft sinkt sie schließlich zurück in den Stuhl. „Giuseppe war ein Mensch, der mit dem Herzen gedacht hat. Ihm war es wichtig, daß es anderen gut geht. Dann ging es auch ihm gut.“ Vaja Marcone läßt sich nur selten anmerken, wie sehr der Tod ihres Sohnes sie getroffen hat.

Giuseppe stirbt am 17. September 2011 am Berliner U-Bahnhof Kaiserdamm. Verfolgt von einem polizeibekannten Schläger flieht er aus dem Bahnhof direkt auf die Straße. Ein Autofahrer kann nicht rechtzeitig bremsen. Giuseppe wird an einen Ampelmast geschleudert und stirbt noch am Unfallort.

Ein Jahr danach sitzt seine Mutter im Wintergarten ihres Hauses unweit des Grunewalds und beobachtet ihre beiden Hunde im Garten. Etwas abseits steht ein etwa drei Meter langes Plakat mit Dutzenden Fotos von Giuseppe. In den Händen hält sie Skizzen eines Mahnmals. Der Ort von Giuseppes Tod soll nicht veröden. Ein Baumstamm soll an den 23jährigen erinnern. Kein echter. Einer aus Metall. Einer ohne Blätter. „Die Gewalt“, sagt sie leise, „zerstört und tötet im schlimmsten Fall.“ Und doch entstehe aus der Tragödie immer etwas Neues. Ein Kreuz oder andere friedhöfliche Symbolik habe sie nie gewollt. „Einen Grabstein habe ich schon auf dem Friedhof.“ Deswegen soll es auch kein Gedenkstein für Giuseppe werden. Ein Mahnmal für alle Gewaltopfer will die 51jährige errichten. „Es geht nicht um meinen Sohn.“

Und doch ist das Denkmal untrennbar mit dem Leben und mit dem Tod Giuseppes verbunden. Berlin war seine Heimat. Hier geht er zur Schule und schart einen großen Freundeskreis um sich. Jahrelang engagiert er sich als Klassensprecher, könnte sogar sein Abitur machen. Doch der begeisterte Kletterer hat vorerst andere Pläne. Er macht eine Ausbildung zum Koch und arbeitet eine Zeitlang im Restaurant der Eltern.

„Er war kein einfacher Schüler“, sagt seine Mutter lachend. Gerade die Berufsschule habe ihm schwer zugesetzt. „Einige waren nur dort, um sich einen Stempel für das Arbeitsamt zu holen.“ Giuseppe jedoch will lernen. Schließlich läßt er sich in eine andere Klasse versetzen. Den Willen, etwas aus sich zu machen hat er von zu Hause mitgenommen.

Vaja Marcone kommt 1969 in die DDR. Ihr Vater mußte 1949 als Kommunist vor der Militärregierung in Griechenland fliehen. In Bulgarien lernt er seine Frau kennen und wandert mit ihr und den Kindern nach Dresden aus. In der DDR arbeitet er in den Rostocker Schiffswerften. „Er war kein Wirtschaftsflüchtling“, betont Vaja Marcone. Ihrer Familie gelingt es schließlich, nach West-Berlin auszureisen. Hier lernt sie Giuseppes Vater, einen italienischen Einwanderer kennen. Drei Kinder bekommt das Paar.

Mit einem jüngeren und einem älteren Bruder wächst Giuseppe auf. Integration ist kein Problem für ihn und die Marcones. Neben der Ausbildung arbeitet er als einziger Nichtjude für einen jüdischen Sicherheitsdienst, hilft bei der Einlaßkontrolle von Synagogen und betreibt den israelischen Kampfsport Krav Maga. „Hey du bist ja gar kein Jude“, habe ihn einmal ein israelischer Offizier angefahren. Guiseppe antwortet knapp: „Na und? Haben Sie ein Problem damit?“

Früh fasziniert er sich vor allem fürs Militär. „Besonders Bücher über den Zweiten Weltkrieg haben ihn begeistert. Die taktische Sachen haben ihn wahnsinnig interessiert“, sagt die Mutter und gestikuliert dabei, als ob sie ganze Armeen über eine Landkarte verschiebt. „Sein großer Traum war es, zur GSG 9 zu gehen. Die Schutztruppe, die alles löst, Menschen rettet und die schweren Jungs hinter Gitter bringt.“

Um sich zu trainieren, läuft Guiseppe bei 1.-Mai-Demonstrationen in Berlin mit. Nicht als Teilnehmer, sondern als Helfer für die Polizei. Umgeben von gewaltbereiten Linksextremisten sondiert er die Lage und ruft beim ersten Anzeichen von Gefahr die Einsatzkräfte. Da ihm der Weg zu den Spezialkräften ohne Abitur vorerst verwehrt bleibt, verpflichtet er sich für die Bundeswehr. Zu den Gebirgsjägern, um genau zu sein. Die Fahrkarte nach Bayern liegt bereits auf seinem Nachttisch. Die Abschiedsfeier bei Freunden ist geplant.

Dann der 17. September 2011. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen als Giuseppe und sein Freund Raul auf dem Bahnsteig warten. Noch ein Jahr nach Giuseppes Tod muß seine Mutter bei der Erinnerung an seine letzten Stunden tief durchatmen.

Fünf Minuten von zu Hause entfernt werden die beiden Jugendlichen um 4.35 Uhr von drei alkoholisierten Türken angesprochen. Sie wollen Zigaretten. Raul weigert sich. Er hat nur noch zwei Stück. Der Bahnhof ist menschenleer. Niemand ist da, um den beiden Freunden zu helfen. Schließlich geht Giuseppe dazwischen und versucht zu schlichten. Die drei Täter kreisen ihn ein, provozieren. Auch Raul wird bedrängt, wehrt sich. Dann eskaliert die Situation. Guiseppe wird von Ali T. verfolgt, läuft seinem Tod entgegen. Bittere Ironie: Noch wenige Stunden zuvor hatte er mit Freunden überlegt, wie sie bei einem Überfall in der U-Bahn reagieren würden.

Die Polizei kann die geständigen Schläger schnell stellen. Drei Stunden nach der Tat klingelt es an der Tür der Marcones. Als sie die schwersten Minuten ihres Lebens schildert, faltet Vaja Marcone die Hände vor ihrem Gesicht zusammen. Eigentlich sollte Giuseppe am Toreingang stehen. Um acht Uhr war sie mit ihm verabredet. Doch dort stehen nur Raul und sein Vater. „Ich dachte, Giuseppe kommt jeden Moment dazu.“ Raul bekommt kein Wort heraus. „Spätestens als sein Vater sagte, wir sollten besser reingehen, wußte ich, daß etwas nicht stimmte.“

Wie betäubt sei sie die Minuten, Stunden, Tage danach durch die Welt gelaufen. Ob sie die Überwachungsvideos gesehen habe? „Ja, ich mußte einfach. Die Polizei sagte mir, Giuseppe habe alles richtig gemacht. Ich wollte wissen, warum er dann trotzdem tot ist.“ Es sei so überflüssig gewesen. „Wären die drei Täter doch nur so cool gewesen wie Giuseppe.“ Sie waren es nicht. Es war wohl auch etwas Sozialneid im Spiel. Hier der erfolgreiche Italiener, da die gescheiterten Türken.

Im März dieses Jahres fällt schließlich das Urteil. Zum Entsetzen vieler Freunde kommen Ali T. und ein Komplize mit Bewährungsstrafen davon.

Vaja Marcone war jeden Tag im Gericht. Der Richter argumentiert, wäre Giuseppe nicht gerannt oder irgendwie anders gelaufen, wäre er auch nicht gestorben. Zudem wurde Ali. T angerechnet, daß er während der Untersuchungshaft bei einer Schlägerei selbst verletzt wurde. „Das Gericht muß den Schaden, den ein Angeklagter in Untersuchungshaft erleidet, auf die Strafe anrechnen“, sagte ein Sprecher nach dem Urteil.

„Ich bin froh, daß überhaupt ein Urteil gefallen ist“, meint Giuseppes Mutter im Anschluß lakonisch. Ihr Anwalt habe ihr gesagt, wäre er der Verteidiger der Täter gewesen, er hätte sie nach zwei Minuten wieder draußen gehabt. Da der Platz nicht videoüberwacht war, konnte das Gericht nicht ermitteln, was außerhalb des Bahnhofs passiert sei.

Haß empfindet Giuseppes Mutter nicht. „Weil es mich zu schnell vom Wesentlichen ablenkt. Von Giuseppe.“ Gedankenverloren nimmt sie die Brille ab. Ihr Mann betritt den Wintergarten. Ob sie heute noch zum Friedhof wolle, fragt er. „Nein, heute nicht.“ „Eigentlich“, fährt Vaja Marcone ungerührt fort, „tun mir die Täter leid, weil sie nichts aus ihrem Leben gemacht haben.“ Ihre Gefühle hebt sie sich lieber für ihre beiden Söhne auf. „Ihr Bruder fehlt ihnen sehr.“

Zwei Tage nach der Tat finden sich fast 1.000 Menschen zu einer Mahnwache am Kaiserdamm ein. Anteilnahme, die auch den Marcones geholfen hat, mit ihrem Verlust umzugehen. „Ich habe mir zuerst überlegt, alles zu verkaufen. Irgendwo hinziehen, wo es sicher ist. Nur, Giuseppe wäre dann ja gar nicht mitgekommen.“ Vaja Marcone ist in Deutschland geblieben. Dazu liebt sie dieses Land zu sehr.

Kraft und Unterstützung findet die Familie bei der Arbeit in der „Giuseppe-Marcone-Stiftung“. Am 12. Oktober berät das Berliner Abgeordnetenhaus wieder über das Denkmal. Alle hoffen auf ein positives Ergebnis. Sie wollen endlich anfangen, Spenden für das knapp 22.000 Euro teure Projekt zu sammeln. 3.000 Euro sind schon da. Ganz ohne Aufruf. Einfach so. Von Freunden und von der Familie. Vaja Marcone will deswegen weitermachen. Wenn sie über die Pläne, die bürokratischen Hürden und die Stiftung spricht, wird klar, wie sehr der Tod ihres Sohnes sie geprägt hat. Und auch, wie stark sie ist.

„Das Leben geht weiter, es kommt darauf an, was wir daraus machen.“ Nach knapp zwei Stunden verabschiedet sie sich. In der Küche steht die schwangere Schwiegertochter. Bald wächst die Familie wieder.

 

Giuseppe-Marcone-Stiftung

Die Stiftung wurde wenige Wochen nach dem Tod Giuseppes gegründet. Sie will auf die Gewaltproblematik aufmerksam machen, Menschen zu mehr Zivilcourage ermuntern und kritisiert die gestiegene „Gewaltbereitschaft in Teilen der Bevölkerung“. Eine Petition für mehr Sicherheit in Bahnhöfen unterschrieben mehr als 5.000 Personen. Derzeit sammelt die Stiftung Geld für ein Denkmal am Berliner Kaiserdamm, mit dem an die Opfer von Gewalt erinnert werden soll.

www.giuseppe-marcone-stiftung.de

Spenden: Bankleitzahl: 100 900 00, Kontonummer: 239 230 1006, Berliner Volksbank, Kontoinhaber: Velin Marcone

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