© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/12 12. Oktober 2012

Familientrauma und Nationalkomplex
„Der Weizsäcker-Komplex“: Am 24. Oktober erscheint in der Edition JF das neue Buch von Thorsten Hinz / Ein Vorabdruck in drei Folgen / Zweiter Teil kommende Woche
Thorsten Hinz

Die Weizsäckers zählen zu den berühmtesten und wirkungsmächtigsten deutschen Familien des 20. Jahrhunderts. Ihr konsequenter Aufstieg begann im frühen 19. Jahrhundert im Königreich Württemberg. Er setzte sich fort im Deutschen Kaiserreich, in der Weimarer Republik, im Dritten Reich, in der Bundesrepublik und nun im wiedervereinten Deutschland. Die Weizsäckers haben ihre Karrieren im Spät- und Nachfeudalismus, in der parlamentarischen Demokratie, unter der nationalsozialistischen Diktatur und in der unter alliierter Aufsicht gegründeten Bundesrepublik betrieben und sind dabei stets ein Stück nach oben gerückt. Ihre Betätigungsfelder sind die Politik und Diplomatie, die Geistes- und Naturwissenschaft, die Theologie, die Medizin und sogar die Kunst. Sie haben einen württembergischen Ministerpräsidenten, einen Staatssekretär im Auswärtigen Amt, einen bedeutenden Atomphysiker und eine Anzahl weiterer Akademiker hervorgebracht. Ihre Familiengeschichte ergibt ein Paradigma der deutschen Geschichte samt ihren Brüchen und erstaunlichen Kontinuitäten.

Den vorläufigen Höhepunkt markierte 1984 die Wahl Richard von Weizsäckers zum Bundespräsidenten, dem in dieser Position etwas Wundersames gelang: Nicht die Stellung als Staatsoberhaupt bestimmte den Blick auf seine Person, sondern Weizsäcker prägte die Vorstellung vom Amt. Er verschaffte ihm eine Kontur und ein Ansehen, die es vorher nicht hatte und danach nie wieder erlangte. Indem die vage definierte Position des Bundespräsidenten mit seiner Persönlichkeit verschmolz, schien sie sich zu vollenden. Durch den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990 wurde Weizsäcker auch der erste Bundespräsident des wiedervereinten Landes, was der Familiengeschichte einen zusätzlichen Glanzpunkt verleiht.

Der politische Gehalt seiner Präsidentschaft konzentriert sich in der Rede, die er am 8. Mai 1985 im Bundestag zum 40. Jahrestag des Kriegsendes gehalten hat und die seither als »historisch« und als „die Rede“ bezeichnet wird. Bis heute beruhen Debatten, Redeweisen, politische Entscheidungen, Gesetze und sogar Gerichtsurteile, die irgendwie im Zusammenhang mit der NS-Vergangenheit stehen, auf dem „Konsens, den Richard von Weizsäcker zum 8. Mai 1985 für die Republik definierte“. Nun war offiziell festgelegt, wie über das Jahr 1945, den Krieg, die Zeit des Nationalsozialismus öffentlich geredet werden durfte und welche Lehren sich für Politik und Gesellschaft ergaben. Es galten die Sonderstellung des Holocaust, die Alleinschuld Deutschlands am Zweiten Weltkrieg, der Vorrang des Befreiungsmotivs und der Opfer des Nationalsozialismus sowie die Kritik am Mitläufertum. Daraus folgte die Verpflichtung zum kritischen Selbstverständnis der Bundesrepublik und zur materiellen und ideellen Wiedergutmachung, die jetzt erneut an Fahrt gewann.

Die 8.-Mai-Rede bildete den inoffiziellen Auftakt zum „Historikerstreit“, dem wohl erbittertsten Kulturkampf der Bundesrepublik, der bis heute konstitutiv ist für die moralische und intellektuelle Ausstattung des Landes. Zugleich war die Ansprache seine politische Vorentscheidung. Weizsäcker war sich seiner meinungsbildenden Wirkung bewußt. Im Herbst 1988 erschien er auf dem 37. Deutschen Historikertag in Bamberg, um einige seiner Kernbotschaften zuzuspitzen: In Anspielung auf Ernst Noltes These vom kausalen Nexus zwischen dem sowjetischen Gulag und dem Mord an den europäischen Juden sagte er: „Was sollte es auch für uns bedeuten, ob Auschwitz einen Vergleich zur grausamen Ausrottung anderer Menschen aushalten könnte? Auschwitz bleibt singulär. Es geschah in deutschem Namen durch Deutsche. Diese Wahrheit ist unumstößlich. Und sie wird nicht vergessen.“ Zu Recht meinte Pflüger, der Bundespräsident habe „am 8. Mai 1985 das Vorwort, am 12. Oktober 1988 das Schlußwort zum Historikerstreit gesprochen“.

Geschichtspolitische Entwicklungen haben in Deutschland direkte gesellschaftspolitische Konsequenzen. (…) Ein Mann mit der elitären Anmutung und dem liberal-konservativen Hintergrund eines Weizsäckers war in der Lage, einem anfangs noch hart umstrittenen Geschichtsbild den Anschein der Allgemeingültigkeit zu geben. (…)

Die Rede löste bei Kritikern die Frage nach möglichen verborgenen Motiven und Zusammenhängen aus. Früh wurde ein Konnex zwischen der Verurteilung des Vaters durch die amerikanische Justiz 1949 im sogenannten Wilhelmstraßenprozeß und den Auftritten des Sohnes hergestellt. „Weizsäcker bewältige permanent seinen Vater zu Lasten des Vaterlandes“, lautete der verbreitete Vorwurf. Besonders umstritten war die Behauptung, die Deutschen hätten mit einem geschärften Gewissen die Tatsache der Judendeportationen wahrnehmen können. Im Zusammenhang mit den anschließenden Reflexionen über die Schuldfrage implizierte das den Vorwurf, die Gleichgültigkeit im Volk habe die Judenvernichtung erst ermöglicht. Hatten Weizsäckers These und seine Forderung nach immerwährender Erinnerung an die NS-Verbrechen wirklich mit Interessen und Motiven zu tun, die sich aus der Familiengeschichte ergaben?

Die familiären Konstellationen bergen in der Tat eine beträchtliche Brisanz. Sein Vater, der Diplomat Ernst von Weizsäcker, geboren 1882, war Anfang 1938 vom neuen Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop zum Staatssekretär im Auswärtigen Amt ernannt worden. 1943 wechselte er nach Rom als Botschafter beim Heiligen Stuhl. Um der Internierung zu entgehen, in welche die deutschen Diplomaten nach Kriegsende automatisch überführt wurden, verblieb er mit seiner Frau im Asyl des Vatikan, ehe beide im Frühjahr 1946 für einige Wochen und unter Zusicherung freien Geleits wieder nach Deutschland reisten. Ernst von Weizsäcker war zur Zeugenaussage zum Nürnberger Prozeß gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher geladen. Ende August 1946 kehrte er endgültig nach Deutschland, auf einen Familienbesitz am Bodensee, zurück. Die amerikanische und französische Besatzungsmacht hatten zuvor das Versprechen des freien Geleits erneuert.

Im Juli 1947 wurde er jedoch im Nürnberger Justizpalast verhaftet. Zunächst als Zeuge für einen Nachfolgeprozeß geladen, sah er sich in die Lage eines Beschuldigten versetzt. Im Januar 1948 saß er auf der Anklagebank im Wilhelmstraßenprozeß, den die Amerikaner gegen ehemalige Angehörige des Auswärtigen Amtes anstrengten. Am 14. April 1949 wurde er des »Verbrechens gegen den Frieden« und des »Vergehens gegen die Zivilbevölkerung« für schuldig befunden und zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Der Schuldspruch erfolgte wegen der Mitarbeit an Plänen zur Liquidierung der Tschechoslowakei im März 1939 („Verbrechen gegen den Frieden“) und wegen seiner Verwicklung in Judendeportationen aus Frankreich („Verbrechen gegen die Menschlichkeit“). Zum Verhängnis wurde ihm ein Schreiben vom 20. März 1942, in dem er SS-Obergruppenführer Adolf Eichmann mitgeteilt hatte, daß seitens des Außenamtes gegen die Abschiebung von 6.000 französischen und staatenlosen Juden nach Auschwitz keine Bedenken bestünden. Ende 1949 hob eine Berufungsinstanz den Schuldspruch wegen „Verbrechens gegen den Frieden“ auf und reduzierte die Strafe auf fünf Jahre. Am 16. Oktober 1950 wurde Ernst von Weizsäcker vorzeitig freigelassen. Am 4. August 1951 starb er in Lindau am Bodensee.

Für eine Familie, die Ansehen und Einfluß von Generation zu Generation vermehrt hat, muß eine so schwerwiegende Verurteilung ihres Oberhaupts gravierende Folgen haben. Familiensinn und -stolz werden tangiert und die Sicherheit, die dem Gefühl familiärer Kontinuität entspringt. Zur Scham und zu den Schuldgefühlen dürfte auch ein – umständehalber gebremster – Zorn über eine alliierte Siegerjustiz und das Gefühl treten, ungerecht behandelt worden zu sein. Bei Richard von Weizsäcker hat der Vorgang in der Tat „tiefe Spuren … hinterlassen. Kaum etwas trifft ihn stärker, als wenn man ohne Sachkenntnis über seinen Vater urteilt. Er weiß, daß es legitime Einwände und fundierte Argumente der Ablehnung gegenüber dem Verhalten des Staatssekretärs gibt. Aber er kennt auch die selbstgerechte Moral mancher Kritiker.“

Die Dignität der Weizsäcker-Dynastie beruht nicht auf mythischen Ursprüngen, sondern ist abhängig von der nachprüfbaren Bewährung ihrer Mitglieder. Nach 1945 entsteht für sie daher ein großes Problem, das Ernst von Weizsäcker frühzeitig erkannt hatte. Am 2. Februar 1941, dem 15. Todestag seines Vaters, machte er sich in einem Brief Gedanken darüber, „welches Erbgut man hinterläßt, wenn man seinen Schild blank gehalten hat. Es vergeht wohl kein Tag, an dem ich mir nicht überlege, wie ich selbst es machen soll, um ohne Fleck auf dem Namen der Familie zu enden …“ Und anläßlich seines 60. Geburtstags einige Monate später: „Ich bin es auch der Familie schuldig, vor allem den Kindern und Enkeln, daß sie sich nicht zu genieren brauchen, wenn da und dort mein Name in Verbindung mit Ereignissen vorkommt, die sie kritischer ansehen werden, als unsere Zeit es tut.“  (…)

Eine Familie, die an ihrem gesellschaftlichen Aufstieg arbeitet beziehungsweise ihre herausgehobene Position verteidigt, muß versuchen, ihr Außenbild zu kontrollieren. Auch die Weizsäckers haben aufmerksam registriert, wie sie von ihrer Umwelt wahrgenommen werden. Zielgenau haben sie bekämpft, verschleiert und zu affirmieren versucht, was auf die Familiengeschichte ein negatives Licht werfen könnte.

Dem Begriff „Weizsäcker-Komplex“, der über diesen Essay gestellt wird, werden mehrere Bedeutungen unterlegt: Er meint, erstens, die Geschichte einer Familie, die zur deutschen Elite gehört und diesen Rang aus eigener Kraft, durch außergewöhnliche Leistungen errungen hat. Der Begriff „Komplex“ benennt, zweitens, etwas unbewußt Wirksames, Verdrängtes, das vom Selbstbild und von der kalkulierten Außendarstellung abgetrennt wird, aber die eigenen Handlungen bestimmt, vermittelt durch die Furcht vor der Offenlegung. Daraus ergibt sich eine Erpreßbarkeit. Umgangssprachlich wird heute auch das Wort »Trauma« verwendet. Ein Familientrauma stellen selbstverständlich die 1949 erfolgte Verurteilung Ernst von Weizsäckers als Kriegsverbrecher dar, seine Festnahme und Visitation, die mehrjährige Haft, die er teilweise im Kriegsverbrechergefängnis Landsberg absaß, und, als bleibende Artefakte, die demütigenden Fotos, die ihn krawatten- und kragenlos als Untersuchungshäftling und später auf der Nürnberger Anklagebank zeigen. Besonders schwer wiegt die Passage im Urteil, in der Ernst von Weizsäcker für schuldig befunden wird, auf dem Dienstweg die Deportation von Juden nach Auschwitz abgezeichnet zu haben. Der Name der Weizsäckers ist gerichtsnotorisch mit dem Symbolort des Holocaust verknüpft, der von der Politik, den Medien und großen Teilen der Wissenschaft inzwischen als ein außergeschichtliches, mit irdischen Kategorien nicht faßbares, quasireligiöses Ereignis behandelt wird. Die Interventionen Richard von Weizsäckers aber haben an der Etablierung der metaphysischen Deutungen des Judenmords einen beträchtlichen Anteil.

Spätestens an diesem Punkt wird aus dem familiären Weizsäcker-Komplex eine hochpolitische und nationale Angelegenheit. (…)

Eine Vermischung politischer und privater Motive hat Richard von Weizsäcker ausdrücklich zugegeben: Die 8.-Mai-Rede sei „die politischste und zugleich persönlichste (seiner) Amtszeit“ gewesen. Das ist doppeldeutig. Er hätte das Beispiel seines Vaters nutzen können, um die Zwänge, begrenzten Einsichten, Aporien und Paradoxien, aber auch die menschlichen Schwächen, die das Handeln und die Unterlassungen der mehrheitlichen Deutschen im Dritten Reich bestimmten, treffgenau zu beschreiben und den impliziten Kollektivschuld-Vorwurf gegen Deutschland zurechtzurücken. Doch er hat lediglich für sich und seine Familie eine elitäre Ausnahme in Anspruch genommen und zu diesem Zweck seinen Vater zum heimlichen Haupt des deutschen Widerstands stilisiert. (…)

Richard von Weizsäcker [hat] versucht, das Familientrauma dadurch zu überwinden, daß er es delegierte. Das lief de facto daraus hinaus, die Familien-ehre auf Kosten des nationalen Selbstbildes wiederherzustellen. Vor das Bild des inhaftierten Vaters schob sich das des Sohnes und Rhetors, der seinem Volk einen Spiegel vorhält und es zwingt, die furchtbare Wahrheit über sich selber anzuerkennen und sich dem Bußzwang zu unterwerfen.

Diese Anmaßung ist tragisch, weil Richard von Weizsäcker genauso wie sein Vater zeitlebens ein Patriot gewesen ist, der sich für das 1945 besiegte, verstümmelte, geteilte Deutschland nichts anderes ersehnte, als daß es wieder geeint, frei und gleichberechtigt und zu einem souveränen Mitglied der Staatengemeinschaft würde. Vermutlich glaubte er, auch mit seiner 8.-Mai-Rede dem deutschen Volk zu nutzen. Als Angehöriger einer Einsichtselite, zu der er sich zählte, sah er seine Aufgabe darin, es gleichfalls zur Einsicht und gewissermaßen zu seinem Glück zu zwingen. Eine überzeugend demonstrierte kollektive moralische Läuterung würde den Groll des Auslands endlich zum Verschwinden bringen und den Deutschen wenigstens auf der moralischen Ebene zur Gleichberechtigung verhelfen, wenn die politische schon nicht zu haben war. Eine Fehlkalkulation, wie man weiß. (…)

Diese Einheit aus familiärem und nationalem Drama ist das zentrale Element des Weizsäcker-Komplexes.

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