© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/12 12. Oktober 2012

Der Flaneur
Sehnsucht nach Heimat
Paul Leonhard

Ein Spätsommertag geht zu Ende. In der Küche flackert das Feuer im offenen Kamin. Darüber köchelt eine Suppe im schwarzen Kessel. Der große Tisch mit den dicken Eichenbrettern ist gedeckt. Wein steht da. In einem Korb liegt frisches Brot. Verschiedene Käsesorten und Weintrauben warten darauf, probiert zu werden. Jeder hat etwas mitgebracht.

Jetzt hocken sie entlang des Tischs und schwatzen. Einsame Herzen, Künstler, Arbeitslose und Studenten. Zwei Ensemblemitglieder des Theaters sind gekommen. Auch noch Auswärtige sitzen am Tisch, neugierig und von dieser Kommunikationsmöglichkeit in der ihnen fremden Stadt fasziniert. Sie hat die Musik angelockt, der Schein des Feuers und die offene Tür. Das ist gewollt. Der Hausherr und seine Freunde hoffen auf Fremde, sind gierig auf neue Geschichten jenseits der eigenen Stadtmauern. Ein Hauch der großen weiten Welt soll hinter die Mauern der Provinzstadt dringen.

Zu den Fremden gehören eine hübsche Frau Anfang Dreißig und ein vielleicht 20 Jahre älterer Mann. Beide betonen, kein Pärchen zu sein. Sie hören den Gesprächen aufmerksam zu, sind sichtlich entspannt. Und plötzlich bricht es aus der Frau heraus. Sie sei ja so froh, mal wieder unter Deutschen zu sitzen und niveauvollen Diskussionen zu lauschen. Diese Stadt sei ja wunderbar, hier fühle sie sich geborgen und beschützt.

Woher sie denn komme, fragt die verdutzte Runde. Aus Mannheim, sagt sie. Und ihr Bekannter aus Ludwigshafen. Da seien die Deutschen längst eine Minderheit. Auf der Straße würde sie angepöbelt, weil sie blond sei, sächsischen Dialekt spreche und überhaupt jede deutsche Frau als Freiwild betrachtet werde. Lediglich in der Stadtverwaltung, wo sie arbeite, sei noch die Mehrheit der Angestellten Deutsche. Deswegen wolle sie zurück, in ihre Heimat. Am liebsten in die kleine Stadt, die sie als Kind mit ihrer Mutter verlassen mußte. Der Mann nickt. Er sei hier, um sich nach einer Eigentumswohnung umzusehen. Er wolle in Mitteldeutschland investieren, wo er sich noch zu Hause fühlen könne.

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