© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/12 12. Oktober 2012

Der Schneidige und der Stille
Denker im Licht und im Halbschatten: Ernst Jünger und sein Bruder Friedrich Georg werden von dem Journalisten Jörg Magenau in einfühlsamer und pointierter Manier biographiert.
Baal Müller

Letzthinnig bin ich Optimist“, denkt der über hundertjährige Ernst Jünger 1996 in seiner Wilflinger Oberförsterei, während er über Wanderungen und Wandlungen, Tod und Wiederkehr sinniert. „Er wartete nicht auf den Tod“, weiß sein Biograph Jörg Magenau und läßt dessen Werk mit fiktiven Betrachtungen des über Zeitalter hinwegschauenden Jahrhundertschriftstellers beginnen und enden. „Der Tod war immer schon da“ – diese Erfahrung wird sich dem Dichter mit dem durchschossenen Stahlhelm schon in einem Alter eingeprägt haben, in dem andere glauben, sie würden niemals dreißig und wären dennoch unsterblich, weil die Dreißig so unendlich fern erscheint.

Magenaus Buch handelt viel vom Tod und dessen mannigfachen Bewältigungen in den Lebenswerken der Jünger-Brüder – nicht nur in den Schlüsselszenen, wenn Ernst seinen schwerverletzten Bruder vom Schlachtfeld tragen läßt, wenn ihm, selbst verletzt, sein eigener rettender Träger weggeschossen wird oder wenn er, einen Weltkrieg später, mit dem berühmten Burgunderglas in der Hand nach einigen Deutungen eine apokalyptische Vision erfährt; die Masken des Todes zeigen sich auch im Menschenverschleiß der rasenden Maschinen, in den totalen kriegerischen oder industriellen Mobilmachungen, wie sie die Brüder mit unterschiedlicher Akzentuierung im „Arbeiter“ oder in der „Perfektion der Technik“ analysiert haben.

Jörg Magenaus „Brüder unterm Sternenzelt“ möchte man aufgrund des starken Narrationsstrangs, zu dem er die beiden Lebensgeschichten zusammenfaßt, nicht als „Doppelbiographie“ bezeichnen; eher hat man den Eindruck, es handele sich um die Biographie eines einzigen platonischen Urmenschen, der sich in zwei Hälften geteilt hat – nur mit dem Unterschied, daß hier keine verlorene Androgynie aus ihren Teilen rekonstruiert, sondern eine ganzheitliche Weltauffassung anhand ihrer perspektivischen Besonderheiten dargestellt wird. Ernst Jünger hat diese Zugangsweise indirekt selbst nahegelegt, indem er von seinem Werk sagte, daß es sich erst durch den eigenständigen Beitrag des Bruders zur vollen Menschlichkeit erhebe.

Magenau gelingt es eindrucksvoll, diese Polarität aufscheinen zu lassen, obgleich Friedrich Georg, der eher Schüchterne, Unscheinbare, Kriegsversehrte, 1977 über zwanzig Jahre früher Verstorbene nicht nur literarisch zeitlebens im Schatten des berühmten Bruders, des hochdekorierten Kriegshelden, schneidigen Draufgängers und weltgewandten „nationalistischen Kosmopoliten“ – bei Ernst Jünger kein Widerspruch – stand. Seine geringere Bekanntheit resultiert nicht aus minderer Begabung, sondern aus der stilleren Wesensart des Dichters der Naturzyklen und Nach-Denkers des Mythos, der allerdings den Vorsprung des älteren Bruders schmerzlich empfunden hat und in den kämpferisch bewegten zwanziger Jahren mit hitzig-naiver Radikalität einzuholen versuchte.

Anders als man es von einem ehemaligen taz-Journalisten erwarten könnte, durchwühlt Magenau aber nicht den Komposthaufen, der zu jedem blühenden Garten gehört, sondern es gelingt ihm, am Befremdlich-Zeitbedingen das Überzeitlich-Gültige herauszustellen, etwa das Unbehagen am Maschinenwesen, am materialistischen Substanz- und Transzendenzverlust, das beide Brüder in späteren Jahren subtiler formulierten als in ihrer politisierten Frühphase.

Selbst der grundsätzlichen Kritik am Versailler Vertrag, an der Verlogenheit westlicher Demokratisierungspolitik, die doch nur die Botmäßigkeit der Unterworfenen im Sinne hatte, kann Magenau, unter Verweis auf Thomas Manns – von den Jünger-Brüdern lautstark gestörte – „Deutsche Ansprache“ (1930) ihre Berechtigung nicht absprechen. Der Unterschied lag gleichwohl darin, daß Mann die Demokratie gegen ihre falschen Väter zu retten, die Jüngers hingegen sie zu überwinden versuchten, ohne daß sie eine wirkliche Alternative parat gehabt hätten. Ihr vordergründig politischer Extremismus erweist sich letztlich als kriegerisch-aristokratische Metaphorik, die mehr in die Welt Homers als in die der Materialschlachten gehört.

Magenaus Buch kommt, obwohl es aus der Fülle der Jüngerschen Werke, Briefe und Tagebücher schöpft, gänzlich ohne Anmerkungen aus und ist dem Roman näher als dem biographischen Sachbuch. Entsprechend gliedert es sich auch nicht in „Kindheit und Jugend“, „Studienjahre“, „frühe Werke“ und dergleichen, sondern unterstellt die Lebensabschnitte jeweils der Herrschaft eines der vier Elemente Erde, Feuer, Luft und Wasser und überblendet die Gegenwart des solcherart metaphysisch geerdeten und kosmisierten alten Jünger auf kunstvolle Weise mit der erzählten Vergangenheit.

Dadurch kann Magenau die zyklische Welterfahrung Friedrich Georgs ähnlich umsetzen wie jene stereoskopische Perspektive seines Bruders Ernst, in der das Ewige im Vergänglichen, der Makrokosmos im Mikrokosmischen der Pflanzen- oder Käferwelten aufscheint. Schreibt Jünger im „Abenteuerlichen Herzen“, daß uns zwei Augenpaare gegeben seien, ein körperliches und ein geistiges, so besteht Magenaus Stereoskopie darin, bald mit den Augen von Ernst und bald mit denen von Friedrich Georg Jünger zu sehen.

 

Jörg Magenau: Brüder unterm            Sternenzelt. Friedrich Georg und Ernst Jünger – Eine Biographie. Klett-Cotta, Stuttgart 2012, gebunden, 320 Seiten, Abbildungen, 22,95 Euro

 

Foto: Die Brüder beim Baden am Bodensee, Überlingen 1952; Friedrich Georg (l.) und Ernst mit Geschwistern als Soldaten des Ersten Weltkriegs: Das körperliche und das geistige Augenpaar

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