© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/12 12. Oktober 2012

Von Not und Sonnensehnsucht
Konsequent aus den Quellen, aber urteilslos: Der Berliner Germanist Peter Sprengel hat eine imposante Biographie des Dichters Gerhart Hauptmann vorgelegt.
Ramon Winckler

Als Monumentalbildhauer, der er hatte werden wollen, kläglich gescheitert, rettete sich Gerhart Hauptmann in die Ehe mit einer reichen Kaufmannstochter, die ihm den zweiten Anlauf zur Künstlerkarriere ermöglichte. Diesmal mit glänzendem Erfolg, denn als Schriftsteller gelang dem 1862 im schlesischen Salzbrunn geborenen Dramatiker und Prosaisten ein kometenhafter Aufstieg.

Die Initialzündung dazu datiert auf den 20. Oktober 1889, als in Berlin „Vor Sonnenaufgang“ über die Bretter ging, das „soziale Drama“ des Verfalls einer Familie. Für die deutsche Literaturgeschichte knüpft sich an dieses Theaterereignis die Ablösung des Realismus durch den „Naturalismus“. Hauptmann hat sich unter diesem Markenzeichen als Anwalt der „Erniedrigten und Beleidigten“, als ein vom wilhelminischen Establishment abgelehnter Dichter der sozialen Frage etabliert.

Zum Weltruhm stieß der Enkel eines Warmbrunner Schleierwebers mit solchen sozialrevolutionären Stoffen 1892 vor, mit dem von der konservativen Presse als „Umsturzdrama“ attackierten Schauspiel „Die Weber“, nach dessen gerichtlich erzwungener öffentlicher Aufführung im Deutschen Theater Kaiser Wilhelm II. seine Loge kündigte. Doch was um 1900 Staatsanwalt und Polizei auf den Plan rief, gehörte seit Gründung der Weimarer Republik, die den 1912 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Literaten „neben dem politischen Reichshaupt“ als „Präsident des Herzens“ (Heinrich Mann) hofierte, zum Pflichtpensum im Deutschunterricht. Und „Rose Bernd“, „Fuhrmann Henschel“, „Die Ratten“, „Der Biberpelz“ ebenso wie die düstere Mär vom „Bahnwärter Thiel“ überstanden selbst die Zäsuren von 1933 wie 1945, um unverwüstlich die Interpretationskünste von Gymnasiasten noch in der Schmidt-Honecker-Ära herauszufordern.

Mit dem frühen Ruhm des im Riesengebirge residierenden Villenbesitzers, der von dort zu ausgedehnten Aufenthalten in seine Feriendomizile Rapallo und Hiddensee aufbrach, um jahrzehntelang auf europäischer Bühne als Wiedergänger Goethes zu brillieren, setzte die Flut der Hauptmann-Literatur ein. Biographen wetteiferten darum, ihn so beharrlich wie keinen anderen Autor seiner Generation zu porträtieren und zugleich weltanschaulich zu vereinnahmen. Das Spektrum reichte dabei vom völkischen Literaturpapst Adolf Bartels bis zu Konrad Haenisch, dem ersten SPD-Kultusminister Preußens, der 1922 den „Seelenkünder“ als Rhapsoden des neuen „Volksstaates“ pries. 

Diese meist hagiographischen Arbeiten kranken indes daran, keinen Zugang in die Werkstatt des Meisters zu eröffnen. Ein Vorwurf, der auch nach 1945 Veröffentlichtes zu Leben und Werk Hauptmanns trifft, da populäre Darstellungen wie die von Kurt Lothar Tank (1959) oder die quasi offiziöse, auf den „bürgerlichen Humanisten“ verpflichtete DDR-Deutung Eberhard Hilschers (1969) nicht in den Nachlaß eintauchten, den die Berliner Staatsbibliothek aufbewahrt und der allein 60.000 Briefe birgt.

Nicht einschüchtern davon ließ sich der Berliner Germanist Peter Sprengel, dessen Studien seit langem aus der Tiefe dieser Hinterlassenschaft schöpfen. Seine Hamburger Dissertation über „Soziologische Aspekte der Innerlichkeit bei Jean Paul“ (1976) ausgenommen, scheint sich Sprengel ohnehin nie für einen anderen Autor als Hauptmann interessiert zu haben, hat er doch seit der Habilitation über den mythologischen Untergrund von dessen Textproduktion sein ganzes Forscherleben auf diesen Schlesier und die von ihm geprägte deutsche Literaturgeschichte zwischen 1870 und 1918 aufgebaut.

So ist Sprengel wie niemand sonst autorisiert, zum 150. Geburtstag des „großen Dichters der Not, des Mitleids und der Sonnensehnsucht“ (Haenisch) die Summe in einer magistralen, kaum mehr zu übertreffenden Biographie zu ziehen. Beinahe Seite für Seite aus dem Nachlaß gespeist, verbannt Sprengels Opus daher die lange Reihe der Erzeugnisse seiner Vorgänger ins Antiquariat. Wer zukünftig über Hauptmann orientiert sein will, greift zu dieser Fleißleistung.

Das Problem ist nur, daß Sprengels Werk mit seinem verwirrenden Detailreichtum, das die Speisenfolge bei den Tafelfreuden des Jungautors in Erkner so penibel protokolliert wie die exakte Zahl der Weinflaschen, denen der alternde Zecher während des Hidden-seer Sommers den Hals brach, die Frage nicht beantwortet, wen diese Materialmassen heute affizieren könnten, warum von Hauptmann außerhalb literaturhistorischer Überblicksvorlesungen Notiz zu nehmen ist? Entsprechend abrupt endet Sprengels Wälzer mit der anekdotischen Schilderung der hindernisreichen Überführung des am 6. Juni 1946 im polnisch besetzten Agnetendorf verstorbenen Dichters. Kein Wort zur Rezeptionsgeschichte, kein Gedanke zur Aktualität des Werkes. So führt die „konsequente Orientierung an Originalquellen“ unter dem Strich tatsächlich zu „neuen Erkenntnissen“ einzig und allein „im Detail“, während die versprochene Ablösung von den „alten Paradigmen der Hauptmann-Biographik“ wenig imponierend gerät.

Auch der „Langstreckenlauf durch mehrere Generationen deutscher Ideen-, Kunst- und Sozialgeschichte“, den ihm diese exemplarische Biographie abverlangte, scheint Sprengel so ermüdet zu haben, daß er oft bei herkömmlichen Rastern verweilt. So etwa, wenn er seinen Helden als lustlosen Kriegslyriker in den Kontext der „Ideen von 1914“ stellt, oder wenn er ihm postum den „Fragebogen“ vorlegt, um Distanz und Nähe zum NS-Regime zu ermitteln. Über den von Alfred Rosenberg als „Judenfreund“ verachteten, von Joseph Goebbels nur als bildungsbürgerlicher Zierat öffentlich geduldeten „Gerhart Hauptmann im Dritten Reich“ liegt jedoch seit 2009 eine fast 400seitige Untersuchung Sprengels vor, die er hier, mitsamt konformistischer Urteilsschablonen zur Zeitgeschichte, in Kurzfassung repetiert. Immerhin entfielen damit auch Peinlichkeiten wie jene 2009 gebrauchte Wendung von der im Mai 1940 eröffneten „Westoffensive der Reichswehr“.

Der durchgehend ironisierende Stil Sprengels macht die Lektüre zwar unterhaltsamer, baut aber mit karikierenden Seitenhieben, die an Thomas Manns Hauptmann-Parodie des Mynheer Peeperkorn erinnern, unentwegt Distanz auf, so daß sich der vom Verfasser gar nicht intendierte Gesamteindruck von einer überlebten, mitunter sogar lächerlichen Figur aufdrängt, dessen schriftstellerische Mission als „Lichtbringer“ bestenfalls germanistische Neugier weckt.  

 

Peter Sprengel: Gerhart Hauptmann. Bürgerlichkeit und großer Traum. Verlag C.H. Beck, München 2012, gebunden, 848 Seiten, Abbil-dungen, 38 Euro

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