© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/12 12. Oktober 2012

Blind hineingestolpert
Kanzler der Einheit: Die „politische Biographie“ Helmut Kohls des Historikers Hans-Peter Schwarz ist in der Darstellung seines Beitrages zur Entstehung der deutschen Einheit lückenhaft.
Friedrich-Wilhelm Schlomann

Vieles in der neuen voluminösen Biographie des Politikwissenschaftlers Hans-Peter Schwarz über Helmut Kohl ist bekannt, wenn auch nicht in der breiten Darstellung. Entscheidend erscheint dabei seine Deutschlandpolitik. In diesem Zusammenhang bemüht sich der Verfasser, die zweifellos bestehenden Verdienste Kohls allzusehr zu betonen, gemachte Fehler oft zu verschweigen und gelegentlich auch die Grenze zur Unwahrheit zu überschreiten.

Ob der „Kanzler der Einheit“ in den Jahren nach 1949 auch noch das Deutschland jenseits der Zonengrenze im Blick hatte, ist eher zu verneinen; manches erfuhr er indes von seiner Frau, die den sowjetischen Einmarsch in Leipzig hautnah erleben mußte und – wenn oft eher widerwillig – von der Exil-CDU, einer Vereinigung von in der DDR politisch verfolgten und geflohenen Funktionären abseits der dortigen „Blockpartei“ CDU. Ab 1969 verblaßt bei ihm das Ziel der Wiedervereinigung, um von der Forderung nach Freiheit für die DDR-Bevölkerung ersetzt zu werden; 1983 hat er sich mit der Zweistaatlichkeit Deutschlands abgefunden. Die Kapitelüberschrift im Buch „Defensive Deutschlandpolitik“ ist überaus zutreffend. Zweifellos will Kohl die Einheit, doch steht sie nach seiner Ansicht „nicht auf der Tagesordnung“, die werde vielleicht „Generationen dauern“. Im März 1984 vermeidet er in seinem „Bericht zur Lage der Nation“ erstmals den Begriff „Wiedervereinigung“. Der Kanzler verläßt sich auf Erkenntnisse der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR, die indes von einer Teilung für alle Zeiten ausgeht und wenig Gespür für die Veränderung in der DDR zeigt.

Über Gorbatschow vermag sich der Bundeskanzler nach 1987 kein abschließendes Bild zu machen. Wiederholte Hinweise des BND, dessen Politik sei schon angesichts der inneren Lage der Sowjetunion ehrlich gemeint, verneint er; Analysen Pullachs, der Kreml sei nach Sachlage zu Kompromissen mit dem Westen gezwungen, verweist er noch im Oktober 1989 „in den Bereich der Phantasie“. Die Behauptung, Kohl sei über die Situation in der DDR genau unterrichtet gewesen, ist unwahr: Er selber räumte einmal ein, „wir wußten doch gar nichts in Wahrheit“. Doch auch das ist ebenfalls unwahr: Er glaubte indes besser informiert zu sein als sein Nachrichtendienst und erachtete die offiziellen Propaganda-Zahlen der DDR-Wirtschaft als realistisch. Stimmt es denn nicht, daß das Bundeskanzleramt bei den Demonstrationen in Leipzig beim BND nachfragte, ob es sich dabei um westdeutsche NPD-Propagandisten handele, wie BND-Präsident Hans-Georg Wieck später bekannte?

Von seltener Offenheit sind Kohls Klagen nicht nur über das schwindende gesamtdeutsche Denken in der Bundesrepublik, speziell bei der SPD, sondern ebenso über seine eigene Partei, deren Spitzenchargen sich ebenfalls auf Fototermine mit dem SED-Führer Honecker freuen! Noch auf der Sitzung des CDU-Bundesvorstands am 6. November 1989 hat das Thema der Wiedervereinigung keine größere Bedeutung. Selbst bei der CDU/CSU-Bundestagsfraktion besteht noch eine Woche vor dem Mauerfall „ein großes Zögern, diesen Begriff überhaupt zu erwähnen“ –  manche Zeitzeugen werten dieses Verhalten als politisch-moralischen Verrat an den Deutschen im Osten.

Vorzuwerfen ist dem Autor sein Verschweigen der Begegnung Kohls mit dem Solidarność-Anführer Walesa an just jenem 9. November, bei der dieser ihm laut Erinnerungen des damaligen polnischen Oppositionellen das sehr baldige Ende der Berliner Mauer prognostizierte und auf Walesas Frage, ob der Bundeskanzler darauf vorbereitet sei, Kohl antwortete: „das wird nicht passieren!“ Unglaubwürdig erscheint die Behauptung, bereits im September 1989 habe er an eine Wiedervereinigung gedacht. Über die Ost-CDU heißt es im Buch, Kohl habe sie „besonders verachtet“. Vom Westen aus ist es allzu einfach, zu einer generellen Verurteilung von Menschen in einer Diktatur zu kommen. Er hat sich in einer nachdenklichen Stunde selber einmal gefragt, ob er die Kraft zum Widerstand gehabt hätte – „Ich weiß es nicht“.

Über den neuen Vorsitzenden der DDR-CDU liest man viel Kritisches. Tiefer Grund ist gewiß, daß de Maiziére auf Augenhöhe und nicht als Untertan mit dem Bundeskanzler verhandeln will: Sind die Voraussetzungen für eine Wiedervereinigung doch in der DDR erkämpft worden, während die gesamte Bundesrepublik letztlich tatenlos zusah.Erst nach dem Fall der Mauer dürfte Kohl die ganze Tragweite der deutschen Einheit erkannt haben, für die er dann seine ganze Kraft und Energie einsetzt und für die Menschen in der DDR der persönliche Heilsbringer wird.

Das lange von ihm unterschätzte Tempo der Entwicklung dort, seine überwältigenden Eindrücke in Dresden, das alles reißt ihn mit. Ob Gorbatschows Zustimmung zur Einheit bei seinem Gespräch mit Kohl am Rhein sein Umdenken bewirkte, wird als Überschätzung des Kanzlers zu sehen sein: Der Gast aus Moskau wurde getrieben, zum Überleben seines Systems bundesdeutsche Kredite zu erlangen und dazu sein Faustpfand – die DDR – zu opfern. Doch auch die Widerstände in Paris und London vermochte der Kanzler zu besänftigen, um Deutschland zur Wiedervereinigung führen. Aus letzterem Grund ist Helmut Kohl tatsächlich das Prädikat „Vater der Einheit“ zuzuerkennen.

 

Hans-Peter Schwarz: Helmut Kohl. Die politische Biographie. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012, gebunden, 1.052 Seiten, Abbildungen, 34,99 Euro

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