© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/12 19. Oktober 2012

Das Schnüffeln der anderen
Überwachung: Immer neue Eingriffe ins Privatleben machen uns zu gläsernen Bürgern unter staatlicher Daueraufsicht
Ronald Gläser

Noch vor wenigen Jahrzehnten wäre das Vorhaben, in Deutschland einen Überwachungsstaat zu errichten, als Irrsinn charakterisiert worden. Gegen die harmlose Volkszählung von 1987 gingen in Westdeutschland Tausende auf die Straße. Und die Mitteldeutschen beendeten wenig später, in einer Glanzstunde der deutschen Geschichte, den MfS-Spitzelstaat.

Und heute? Die Deutschen schauen zu, wie Behörden immer stärker in ihre Privatsphäre eindringen und einen Überwachungsstaat errichten, der den dunklen Visionen George Orwells in nichts nachsteht. In den Schulen wird noch das Idealbild vom Rechtsstaat vermittelt, doch draußen hat längst ein revolutionärer Umbau begonnen.

Zur „Terrorbekämpfung“ wird der Rechtsstaat ausgehöhlt. Wer sich kritisch dazu äußert, wird schnell als Hysteriker gebrandmarkt. Ihm wird unterstellt, ein unbegründetes Mißtrauen gegenüber staatlichen Stellen zu hegen. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Der Staat, der Bankkonten einsieht, E-Mails liest, Bewegungen speichert und alles filmt, ist von übergroßem Mißtrauen gegenüber seinen Bürgern erfüllt.

Der Schutz der Privatphäre und der persönlichen Kommunikation sollte einen hohen Stellenwert genießen. Die Grundrechte, die das garantieren, sind nicht überflüssig, sondern notwendiger denn je. Gerade angesichts des dramatischen technischen Fortschritts müssen sie auf die neuen Medien ausgedehnt werden. Statt dessen werden jedoch Rechte wie Brief- oder Bankgeheimnis beseitigt. Als leere Hülle gelten sie formal weiter, in Wirklichkeit sind sie längst obsolet.

 

Vorratsdatenspeicherung

Die Vorratsdatenspeicherung (VDS) ist das wichtigste EU-Vorhaben zur Ausspähung der Bürger. Sämtliche Verbindungsdaten vom Telefon und Netzanschluß sollen für ein halbes Jahr von den Anbietern wie Telefongesellschaften oder Internetprovidern erfaßt und an staatliche Behörden auf Nachfrage weitergeleitet werden. Bislang dürfen die Firmen nur die für die Rechnungsstellung erforderlichen Daten speichern. Durch die von der EU verlangte Neuregelung würden alle Bewegungen und Kontakte eines Bürgers damit nachvollziehbar. Von jedermann könnte nachträglich ein Bewegungsprofil erstellt werden. Da Eingaben bei Suchmaschinen und Internetadressen sowie der E-Mailverkehr erfaßt würden, lassen sich auch soziale Kontakte und Interessen bis ins Detail ausspähen. Das Bundesverfassungsgericht hat die VDS 2010 für grundgesetzwidrig erklärt. Jetzt zahlt Deutschland eine Strafe wegen der Nicht-Umsetzung der EU-Richtlinie.

 

Viren, Trojaner

Das Verwanzen von Wohnungen oder Telefonen in der vordigitalen Welt war sehr aufwendig. Viel einfacher ist heute die Online-Durchsuchung. Mit schädlichen Computerprogrammen (Spionagesoftware) werden fremde Rechner oder Telefone ausgespäht. Oder (potentielle) Strafttäter werden an kriminellen Handlungen gehindert. Die spektakulärsten Programme dieser Art, Stuxnet und Flame, wurden mutmaßlich vom israelischen Geheimdienst oder der CIA auf den Weg gebracht, um das iranische Atomprogramm zu behindern. Auch deutsche Behörden arbeiten mit sogenannten Trojanern, die selbständig in Computer von Zielpersonen eindringen oder dort von Agenten installiert werden. Die Programme sichern Außenstehenden den Zugriff auf diese Rechner. Festinstallierte Kameras könnten zudem zum Zwecke der Überwachung manipuliert werden. Onlinedurchsuchungen sind rechtlich umstritten. Grundsätzlich ist es für Strafverfolgungsbehörden schwieriger als für Geheimdienste (BND, MAD, Verfassungschutzämter). Justiz und Polizei haben seit 2009 angeblich nur etwa 35mal pro Jahr Bundes- oder Staatstrojaner zum Einsatz gebracht.

 

Bankgeheimnis

Rund vierhundert Jahre lang waren Banken grundsätzlich verschwiegen. Das ist Geschichte. Längst wird es immer schwieriger, auch kleinere Vermögen zu verwalten, ohne daß der Staat davon Kenntnis erlangt. Zur Offenlegung seiner Konten ist nicht nur das Millionenheer der Transferzahlungsempfänger (Arbeitslosengeld II, Bafög etc.) gezwungen. Das Bundeszentralamt für Steuern kann aufgrund der gemeldeten Freibeträge den Kontostand schätzen. Der Inhalt von Schließfächern muß im Todesfall der Erbschaftssteuerstelle gemeldet werden. Der Staat schließt obendrein Abkommen mit fremden Staaten wie der Schweiz, um Auskunft über dortige Konten seiner Bürger zu erlangen. Der neueste Trend: Bürger sollen gezwungen werden, Geschäfte ab einer bestimmten Höhe unbar abzuwickeln. In Italien gilt dies jetzt schon für Zahlungen ab 1.000 Euro. Auch Bundesfinanzminister Schäuble hat sich bereits abfällig über den „intransparenten“ Charakter von Bargeld geäußert.

 

E-Mail- Verkehr

Seit 1712 ist das Postgeheimnis in Deutschland durch die Allgemeine Preußische Postordnung gewährleistet. Eigentlich. Doch das Grundrecht erscheint angesichts der Zahl von mitgelesenen E-Mails als ein Relikt aus grauer Vorzeit: Im April kam durch eine Anfrage der Linken im Bundestag heraus, daß alleine der BND im Jahr 2010 37 Millionen E-Mails überprüft hat – in den meisten Fällen wohl ohne richterliche Erlaubnis.

Dabei handelte es sich um Nachrichten, die nach bestimmten Schlüsselbegriffen herausgefiltert worden waren. Wie groß die Zahl der dazu insgesamt überwachten E-Mails war, ist unbekannt. Verglichen mit dem Vorjahreswert von 6,8 Millionen ausgewerteten E-Mails hat sich die Zahl binnen Jahresfrist verfünffacht. Resultat: Trotz massenhafter Überwachung fanden sich nur 213 Hinweise für den Geheimdienst. Und das, obwohl die Geheimdienste selbst verschlüsselte Nachrichten mitlesen. Denn auch das teilte die Bundesregierung auf die Anfrage der Linken, ob verschlüsselte Nachrichten lesbar seien, mit: „Die eingesetzte Technik ist grundsätzlich hierzu in der Lage, je nach Art und Qualität der Verschlüsselung.“

 

Clean-IT

Clean-IT ist ein Projekt der EU zur Bekämpfung „terroristischer und extremistischer Netzwerke im Internet“. In einem im September veröffentlichten, internen Clean-IT-Dokument wird die weitreichende Überwachung des Internets durch Internetdienstanbieter gefordert. Sie sollen verpflichtet werden, angeblich terroristische oder kriminelle Inhalte selbständig zu identifizeren und zu löschen. Hinterher seien die Strafverfolgungsbehörden zu informieren. Nutzer in Foren sollen verpflichtet werden, ihre korrekten Namen zu verwenden, um die Anonymität im Netz einzuschränken. Wie bei Indect, VDS und den zunehmenden Einschränkungen des Bankgeheimnisses sollen private Unternehmen vom Staat dazu verpflichtet werden, ihre Kunden zu gewünschten Verhaltensweisen zu zwingen. Von deutscher Seite ist das Bundesinneneministerium an dem Projekt beteiligt.

 

Indect

Das 15 Millionen Euro schwere Forschungsprojekt „Intelligentes Informationssystem zur Unterstützung von Überwachung, Suche und Erfassung für die Sicherheit der Bürger in städtischer Umgebung“ (kurz: Indect) erprobt die Vernetzung sämtlicher verfügbarer Daten – beispielsweise von Kameras, Telefonen, Sozialnetzwerken, Suchmaschinen und anderen Datenbanken. Das Ziel ist es, verdächtige Personen (Kriminelle, Terroristen) möglichst vorbeugend anhand von Überwachungskameras und Gesichtserkennungssoftware ausfindig zu machen und zu kontrollieren. Zu diesem Zweck könnten auch unbemannte Flugobjekte (Drohnen) zum Einsatz kommen. Gegen Indect, eines der umstrittensten Überwachungsprojekte der EU, demonstrieren am Sonnabend europaweit Tausende von Kritikern des Überwachungsstaates.

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