© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/12 19. Oktober 2012

Neptuns Zorn
Wissenschaftsrätsel: An der Küste von Florida ist ein Riesenauge angeschwemmt worden
Richard Stoltz

Zu spät fürs Sommerloch und zu tatsachenhaltig, um als bloßes Seemannsgarn abgetan zu werden: An der Küste von Florida, nördlich von Fort Lauderdale, ist ein riesiges, fast galiamelonengroßes, leuchtend blaues, aber blutumrandetes Auge angespült worden, ohne alles sonstige Beiwerk, ohne Fleischfetzen oder Knochsplitter, das Auge an sich gewissermaßen, ein wahrhaft unheimliches Fundstück wie aus einer anderen Welt. Die Gelehrten sind ebenso ratlos wie die Märchenerzähler und Spökenkieker.

Die meisten Ichthyologen halten den Fund für das Auge eines Schwertfischs aus der Gattung Xiphias, jenes Fisches also, dessen Nasenschnauze (Rostrum) in geradezu irre Längen vorgeschoben ist und tatsächlich an ein riesiges Schwert erinnert. Alle bekannten Schwertfische haben große blaue Augen, freilich nur bis zur maximalen Größe einer Orange. Das „Auge von Florida“ müßte hingegen einem Exemplar gehört haben, das mindestens eine Tonne wog und von dem bisher noch keine Spur je gesichtet wurde.

Und wie ist das Riesenauge an die Küste geraten, was ist da passiert? Schwertfische sind Hochseebewohner, die sich faktisch nie an Küsten verirren. Sie können pfeilschnell schwimmen (über 60 Stundenkilometer) und noch besser sehen. Es ist also höchst unwahrscheinlich, daß der Fund von Florida Resultat irgendeines tierischen Gigantenkampfes etwa zwischen Riesenschwertfisch und Riesenkalmar ist. Der schweifenden Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Der Zoologe Dan-Eric Nilsson von der Universität Lund in Schweden, ein Experte für die Augen von Meerestieren, hat inzwischen kräftig abgewiegelt. Das unheimliche Riesenauge, sagt er, habe ein Hochseefischer einfach gleichgültig ins Meer geschmissen, als er einen gefangenen Schwertfisch ausweidete. Wer’s glaubt, ist selbst dran schuld.

Es könnte doch auch sein, daß uns Menschen hier Neptun, der Gott des Meeres, persönlich ein Warnzeichen zukommen ließ: „Übertreibt’s nicht mit der Überfischung der Ozeane! Haltet Maß! Big Brother is watching you!“

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