© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/12 19. Oktober 2012

Eine Rede, die nicht vergehen will
„Der Weizsäcker-Komplex“: Am 24. Oktober erscheint das neue Buch von Thorsten Hinz / Ein Vorabdruck in drei Folgen / Zweiter Teil
Thorsten Hinz

Die elektrisierende Wirkung, die Richard von Weizsäcker mit seiner Rede am 8. Mai 1985 erzielte, wird vor allem mit der Synthese aus anspruchsvollem Inhalt und vollendeter Form begründet. „Es ist eine Rede, die die Erfahrungen seiner Generation und seines Lebens umfaßt und durch die Fähigkeit zur äußersten Konzentration und wegen ihres nüchternen Sprachstils Wirkungen erzeugt, die unvergleichlich sind.“ Weizsäckers sämtliche „Fähigkeiten, seine Kenntnisse, seine Sprachkunst (seien) in dieser Rede meisterlich aufgehoben und gleichsam verschlossen“.

Die Euphorie war nicht planbar, doch die Absicht, sich vom Niveau der üblichen Jubiläums- und Gedenkreden abzuheben, hatte Weizsäcker und seinen Stab von Anfang an bewegt. Monatelange Vorbereitungen, Gespräche, Beratungen und eine intensive Arbeit am Text gingen dem Auftritt im Bundestag voraus. Der Redner gab sich im Rückblick bescheiden: „Es waren nicht eigentlich neue Einsichten, die ich vorzutragen hatte.“ In der Tat lag die Rede ganz auf der Linie der deutschen Vergangenheitsbewältigung, die nach den ominösen Hakenkreuzschmierereien von 1959/60 begonnen hatte, parallel zum Eichmann- und Auschwitz-Prozeß anschwoll und seit der 68er-Studentenbewegung die öffentlichen Debatten zu dominieren begann.

Da war erstens die Feststellung: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Die Sätze enthalten eine der Kernaussagen der Rede, ein Konzentrat ihrer Wirkungsstrategie und der benutzten rhetorischen und stilistischen Mittel. Der zweite Satz benennt eine nachprüfbare, in allen Meinungslagern unumstrittene Tatsache: Der 8. Mai 1945 setzte dem Regime der Nationalsozialisten ein Ende!

Die Frage ist nur, ob er tatsächlich die im ersten Satz peremptorisch aufgestellte Befreiungsthese begründet. Um den gewünschten Effekt zu erreichen, verklammert der Redner die beiden Sätze, indem er das Substantiv „Befreiung“ in das Verb „befreit“ überführt. Er stellt so einen suggestiven Zusammenhang zwischen der ersten und der zweiten Aussage her und vermittelt den Anschein einer historisch-politischen Beweisführung. Die Wahrheit aber, daß der 8. Mai die Befreiung vom NS-Regime markiert, ist hinsichtlich der Gesamtbedeutung des Tages nur ein Element unter mehreren. Mit einem rhetorischen Trick und um den Preis eines logischen Fehlers erhebt Weizsäcker eine Teilwahrheit zur absoluten Wahrheit. (…)

Die bundesdeutsche Gesellschaft war zu diesem Zeitpunkt noch zu pluralistisch, um eine staatlich verordnete Schematisierung der Geschichte hinzunehmen. Außerdem hatte der Kalte Krieg seinen Höhepunkt zwar überschritten, doch blieb die Sowjetunion für den Westen ein gefährlicher Gegner. Es hätte wie ein Zeichen der Schwäche gewirkt, ihren Unterdrückungscharakter gänzlich zu verschweigen und ein bruchloses Befreiungspanorama zu entwerfen. Dem stand auch die Tatsache der deutschen Teilung entgegen, die der 8. Mai ebenfalls symbolisch markierte. Sie zu beenden, war immerhin das erklärte Ziel der Bundesrepublik – und das persönliche Anliegen Richard von Weizsäckers!

Er stellte zu Beginn der Rede die ganz unterschiedlichen Erfahrungen am 8. Mai 1945 gleichberechtigt nebeneinander: „Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft …“ Deutlich benennt er die politischen und militärischen Umstände des Kriegsendes: „Die militärische Kapitulation war bedingungslos. Unser Schicksal lag in der Hand der Feinde …“ Doch die Aufzählung widersprüchlicher Fakten ergibt noch keine Conclusio. Das Befreiungspostulat, das der Redner aufstellt, bleibt pure Behauptung.

Der Redner versagte sich die naheliegende Frage, warum die Alliierten zur Beseitigung des Nationalsozialismus überhaupt auf der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands bestanden. Einfacher und für alle beteiligten Seiten – die Deutschen, die alliierten Soldaten und die unterworfenen Völker – menschenfreundlicher wäre es gewesen, dem deutschen Widerstand jene bindenden Zusagen für die staatliche Fortexistenz des Reiches zu geben, um die ihre Emissäre händeringend baten. Mit diesen Garantien in der Hand hätten sie die oppositionelle Basis verbreitern und den Staatsstreichversuch vom 20. Juli vielleicht zum Erfolg führen können.

Nein, das strategische Ziel der Alliierten war die endgültige Ausschaltung Deutschlands als eigenständiger Machtfaktor. Hitler bot ihnen dafür einerseits die bestmögliche Handhabe, andererseits erscheint seine Weigerung zu kapitulieren als äußerster und verzweifelter Versuch deutscher Selbstbehauptung. Die Zerschlagung des Regimes beziehungsweise die „Befreiung“ von ihm war eine positive Begleiterscheinung der Niederlage, die aber das alliierte Ziel und das machtstrategische Ergebnis des Krieges: die Debellatio, die vollständige Unterwerfung des deutschen Staates, nicht aufhob. Für Deutschland den 8. Mai als den „Tag der Befreiung“ zu deklarieren bedeutet, sich als Besiegter der Sinngebung des Krieges durch die Sieger unterzuordnen und sich ihnen moralisch und politisch dauerhaft zu unterwerfen. (…)

Um das Befreiungspostulat widerspruchsfrei zu halten, muß Weizsäcker vertuschen, daß der Zweite Weltkrieg von mehreren Mächten entfesselt wurde. Die Niederlage des deutschen Nationalstaates und seine Unterwerfung in seine „Befreiung“ umzudeuten, erfüllt das Bedürfnis, selber am Sieg teilzuhaben, aber es verfehlt die geschichtliche Lage und die durch die Geschichte determinierte Gegenwart.

Mit großem rhetorischem Aufwand stellte der Bundespräsident die Judenverfolgung, die Bedeutung des Holocaust und das Verhältnis der Deutschen zu den Juden in den Mittelpunkt seiner Rede: „Am Anfang der Gewaltherrschaft hatte der abgrundtiefe Haß Hitlers gegenüber unseren jüdischen Mitmenschen gestanden. Hitler hatte ihn nie vor der Öffentlichkeit verschwiegen, sondern das ganze Volk zum Werkzeug des Hasses gemacht.“

Das ist eine weitere Verzerrung der Tatsachen. Die ersten Beschlüsse und Maßnahmen der Hitlerregierung nach dem 30. Januar 1933 standen unter dem Motto „Angriff gegen den Marxismus“. Der Antisemitismus war ein Herzstück von Hitlers Weltanschauung, aber nicht, wie Weizsäcker insinuiert, der Hauptgrund für den Zulauf der Wähler. Gerade 1932/33, als die NSDAP zur größten Partei Deutschlands wurde, nahm Hitler ihn in öffentlichen Äußerungen zurück, weil der Judenhaß viele Deutsche abstieß. Die Reden, in denen Hitler den Juden Furchtbares androhte, stammen aus der Zeit, in der das Regime bereits fest etabliert war und sich die Gefahr eines Krieges abzeichnete, wofür er jüdische Drahtzieher verantwortlich machte.

Die Behauptung, das „ganze Volk“ hätte sich zum „Werkzeug“ seiner Leidenschaft machen lassen, ist vor dem Hintergrund des Holocaust nichts anderes als die Wiederholung der Kollektivschuldthese. Die einschränkende Erklärung an anderer Stelle: „Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht. Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich“, bedeutet nur ein elegantes, weizsäcker-typisches „Sowohl-Als-auch“, eine rhetorische Verteidigungslinie, hinter die sich der Redner vor erwartbarer Kritik zurückziehen konnte. (…)

Bei Weizsäcker verbinden sich Faktenselektion und eine unscharfe, emotional aufgeladene Begrifflichkeit zu einem einseitigen, sakral überhöhten Geschichtsbild, das die Grundlage einer ins Unendliche verlängerbaren Buß- und Sühnepflicht bildet. In der Rückschau erweisen sich vor allem zwei Argumentationsstränge als folgenreich: Zum einen die Betonung der Judenverfolgung (in die, wie schon gesagt, laut Weizsäcker die Deutschen kollektiv als Täter oder wegschauende Mitwisser schuldhaft verstrickt waren) als das zentrale Ereignis der deutschen Geschichte. Zweitens die Mahnung zum unablässigen Erinnern, Gedenken usw. – die Begriffe kommen in unterschiedlichen Variationen mehr als 20mal vor. Schließlich verknüpfte er die beiden Stränge: „Würden wir unsererseits vergessen wollen, was geschehen ist, anstatt uns zu erinnern, dann wäre dies nicht nur unmenschlich. Sondern wir würden damit dem Glauben der überlebenden Juden zu nahe treten, und wir würden den Ansatz zur Versöhnung zerstören.“

Das war eine klare Handlungsanweisung nicht nur zum Ob, sondern auch zum Wie der Vergangenheitsbewältigung. Eine Verweigerung war demnach mehr als ein politischer und moralischer Fehler, nämlich ein Sakrileg. Die im Gang befindliche Moralisierung von Politik und Geschichtsschreibung erhielt so den präsidialen Segen.

Nur ist von Weizsäckers im Namen der Menschlichkeit verkündetes Amnesieverbot gleichfalls unmenschlich. Eine Erinnerung, die nicht verschlungen ist mit dem Vergessen, hält Individuen und Völker im Bann der Vergangenheit. In Endlosschleifen aus Selbstreflexionen und Selbstzweifeln gefangen, werden sie auf längere Sicht handlungsunfähig, ja lebensuntüchtig. Das gilt erst recht, wenn die Fixierung einem Negativereignis gilt, das permanent Schuld- und Schamgefühle auslöst.

Besonders effektvoll war Weizsäckers Rückgriff auf Topoi der christlichen und jüdischen Religion. Mit Sätzen wie: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“, rückte er das Gedenken in die Nähe einer religiösen Übung. Doch was bedeutet dieser Satz für die Deutschen? Wie können sie Erlösung finden in der permanenten Erinnerung an ein Massenverbrechen?

Für einen ehemaligen Kirchentagspräsidenten erstaunlich, negierte Weizsäcker ungerührt, daß das Christentum Vergebung für begangene Sünden gewährt, sofern die Schuld bekannt wurde und Reue und Buße geleistet wurde. Der Sünder wird aus seinem Status erlöst, wozu zweifellos auch gehört, die permanente Vergegenwärtigung der Schuld zu beenden, den Schmerz darüber abklingen zu lassen und die Geschichte tatsächlich Geschichte sein zu lassen.

Die Begriffsverwirrung, die Weizsäcker verursachte, ist total. Statt zwischen „Schuld“, „Haftung“, „Tilgung“ und „Bewährung“ klar zu unterscheiden, spekulierte er auf den emotionalen Mehrwert der Begriffe. Die „Schuld“ betrifft nur die unmittelbar und mittelbar beteiligten Befehlshaber, Planer und Ausführenden des Völkermords. Weizsäcker aber ermunterte dazu, auch das Nichtwissen, das Wegschauen, Ignorieren oder Verdrängen dieser Vorgänge als „Schuld“ zu bezeichnen. Damit stellte er nicht mehr nur Handlungen, sondern bereits Haltungen als verurteilenswert dar. Selbst unter der – historisch unzutreffenden – Voraussetzung, daß diese Haltungen für die Deutschen im Dritten Reich bestimmend waren, läßt Weizsäckers rigoroser Standpunkt die Wirklichkeit einer totalitären Herrschaftspraxis außer acht. Die NS-Diktatur räumte den Menschen die Möglichkeit ein, das, was moralisch unerträglich war, nicht wahrnehmen zu müssen beziehungsweise sich im Zustand des Nichtwissens zu wiegen. Diese Ausflucht wahrzunehmen, bedeutete nicht zwingend Gleichgültigkeit oder gar Identifikation mit dem Regime, sondern entsprang überwiegend der Furcht, daß andernfalls KZ oder Tod drohten. (…)

Was Weizsäcker von den Deutschen verlangte, war einerseits ihre Identifizierung mit dem Opfertrauma der Juden, das nach einer ins Unendliche verlängerten Vergegenwärtigung ruft. Doch die „Erinnerung“, die hier verlangt wird, beruht nicht auf eigenen Erfahrungen. Daher kann sie keine authentische, nur eine virtuelle sein, die erheuchelt oder nachträglich implementiert ist und auf die Verwirrung des Bewußtseins hinausläuft. Diese wird komplett, wenn die Identifizierung der Opfer einhergeht mit einem auf Dauer gestellten Schuldgefühl als Tätervolk: eine Anweisung zum kollektiven Wahnsinn!

Thorsten Hinz: Der Weizsäcker-Komplex. Eine politische Archäologie. Edition JF, Berlin 2012, gebunden, 360 Seiten, 24,80 Euro

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