© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/12 19. Oktober 2012

Mein erstes Auto
50 Jahre Kettcar: Ein Erfolgsprodukt aus Deutschland für Jungs, die noch draußen spielen
Toni Roidl

Beide Hände fest am Lenkrad, trete ich voll rein. Mein Wagen rast über den Asphalt. Brutal ziehe ich die Handbremse. Die Hinterachse blockiert, Sand und Splitt spritzen hoch. Ich habe alles unter Kontrolle. Dann ruft Mutti: Abendessen!

In diesem Jahr feiert eine deutsche Erfindung Geburtstag, auf der so ziemlich jeder Mann von fünf bis fünfzig mindestens einmal mit seinem Hintern gesessen hat – das Kettcar wird ein halbes Jahrhundert alt!

1962 am Rand des Sauerlandes: Heinz Kettler produziert in seiner Anfang der Fünfziger gegründeten Firma Gartenmöbel, Fahrräder, Tischtennisplatten und Kinderspielzeug. Da hat er eine Idee: Vom Autoboom der sechziger Jahre inspiriert, gibt er den kleinen Kraftfahrern von morgen ein Fahrzeug, das ihnen Mobilität und Männlichkeit schenkte. Wer lässig mit dem Kettcar auf dem Spielplatz vorfuhr, konnte sich der Blicke der flotten Mädels aus dem Sandkasten sicher sein. Das Kettcar war natürlich ein Unisex-Gerät, stieß aber bei Mädchen auf wesentlich geringeres Interesse.

Heute gibt es Kettcars in Extra-Ausführung für Mädchen in femininen Farben wie Pink oder Violett. Das sorgt zwar für mehr Absatz in der weiblichen Käuferschicht von 4 bis 10 Jahren, dürfte aber hysterisches Gekeife von Gender-Zicken auslösen, wenn es im Gleichstellungsmilieu bekannt wird.

Die Popularität des Formel-1-Sports brachte dem sportlichen Tretauto in den siebziger Jahren den Durchbruch. Typenmodelle mit entsprechenden Namen wie Avus, Monza und Monte Carlo sorgten bei den Kapitänen des Bürgersteigs für einen Hauch Niki-Lauda-Feeling. Der Clou war, neben dem simplen Fahrradantrieb, der Bremshebel neben dem Sitz: Die unmittelbare Wirkung des Hebels auf die Hinterreifen ermöglichte spektakuläre Vollbremsungen.

Inzwischen wurden von dem Kultauto weltweit über 15 Millionen Stück verkauft, und es fand sogar Eingang in den Duden: Das Kunstwort (aus „Kettler“ und „Car“ = Auto) wird als Gattungsbegriff für „mit Pedalen über eine Kette angetriebene Kinderfahrzeuge“ definiert. Und es gibt den Namen einer bekannten Hamburger Rockband ab. Die Nachfrage ist ungebremst: Die Jubiläumsmodelle „Sao Paulo“ und „Imola“ rollen moderner denn je daher. Das „Kett-Quad“ erweitert die Palette um eine aktuelle Variante.

Kettler ist heute europäischer Marktführer im Segment Heimsport. Das Unternehmen hat Niederlassungen in den USA, Kanada, Australien und Frankreich; der Stammsitz ist aber immer noch am sauerländischen Möhnesee. Der Firmengründer verstarb 2005 im Alter von 77 Jahren, den Betrieb führt seine Tochter Karin. Kettler ist ein großer regionaler Arbeitgeber. Die Kettcars und sonstigen Produkte werden in Deutschland gefertigt. Allein in Werl betreibt Kettler vier Werke. Außerdem unterhält das Unternehmen vier eigene Verkaufsstätten in Nordrhein-Westfalen.

Das Jubiläumsjahr feiert die Firma mit dem fünften „KettCup“. Die Rennen an verschiedenen Orten Deutschlands ziehen viel Publikum an. Alles ist wie „in echt“: Vor dem Rennen gibt es ein „Warm-up“ und „Qualifying“. Der 200-Meter-Parcours stellt hohe Anforderungen: Es geht durch Haarnadelkurven und knifflige Schikanen, bevor auf der Zielgeraden richtig Kette gegeben wird. In drei Altersklassen kämpfen die Piloten um Titel, Urkunden und Preise.

Im Gegensatz zu früher wurde das Kettcar von heute wesentlich verbessert. Damit die Jungs die Mädels aus dem Sandkasten auch mitnehmen und um den Block fahren können (oder umgekehrt), gibt es zweisitzige Varianten. Und wer auch als Erwachsener gar nicht von seinem Lieblingsgefährt lassen kann, für den gibt es die Riesenausführung für Große.

Manchem ist das aber nicht schnell genug. Der Wunsch, das Kettcar zu motorisieren, spornt große Jungs zum Tüfteln an. Motoren von Kettensägen, Rasenmähern oder Mofas werden an Kettcars gebastelt, um ein paar Kilometer pro Stunde mehr herauszuholen. Das Internet ist voll von Videos, in denen man sieht, warum das keine gute Idee ist.

Im Zeitalter von Wii und X-Box bietet das Kettcar wichtige nicht-virtuelle Kindheitserlebnisse. Wir wünschen ihm auch weitere 50 Jahre allzeit gute Fahrt!

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