© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/12 26. Oktober 2012

Unter die Fittiche des Staates flüchten
Zweck erfüllt: Die Piratenpartei neutralisiert das Protestpotential und verhindert die Etablierung einer programmatischen Konkurrenz zu den alteingesessenen Parteien
Thorsten Hinz

Die Piraten haben einen atemberaubenden Aufstieg erlebt. Möglich war er nur, weil die Medien und selbst die Altparteien sie als Hätschelkinder behandelten. Die Höhe ihres Erfolgs kontrastiert mit der Geringfügigkeit ihrer politischen Substanz. Diese besteht hauptsächlich in der breiten Berichterstattung, die man ihnen gewährt. Die Piraten sind keine Bedrohung des politisch-medialen Systems, sondern lediglich sein selbstreferentieller Überschuß. Um so schwerer wird es sie treffen, wenn es ihrer überdrüssig wird, ihren Zweck für erfüllt hält und sich in Liebesentzug übt. Erste Anzeichen dafür gibt es bereits.

Den ersten Wahlerfolg landete die Partei vor einem reichlichen Jahr, am 18. September 2011 bei der Abstimmung zum Berliner Abgeordnetenhaus. An den Wahlplakaten kann das unmöglich gelegen haben. Die Farben taten dem Auge weh, die Motive waren als Kinderschreck geeignet, die Losungen dümmlich. Doch es gab kein Entkommen, weil die lokalen Radiosender fast stündlich vermeldeten, daß die Piraten zwar naiv und unerfahren, aber rundum sympathisch, locker, frisch und unverbraucht seien – direkt zum Reinbeißen! Das war der alles entscheidende Unterschied zu den anderen Parteineugründungen, die ignoriert oder als populistisch, extremistisch usw. bekämpft werden. Protestwählern wurde eine Alternative suggeriert und zugleich bedeutet, daß sie mit ihrer Wahl innerhalb des geduldeten Spektrums blieben.

Die Piraten verstehen sich als Vertreter und Sprachrohr der Internet-Generation. Deren Selbstverständnis wurde grundsätzlich 1996 im Cyberspace-Manifest des Internet-Gurus John Perry Barlow zusammengefaßt, das mit einer Kampfansage beginnt: „Regierungen der Industriellen Welt, ihr müden Riesen aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, dem neuen Zuhause des Geistes. Als Vertreter der Zukunft bitte ich euch aus der Vergangenheit, uns in Ruhe zu lassen. Ihr seid nicht willkommen unter uns. Ihr habt keine Souveränität, wo wir uns versammeln.“ Denn: „Wir erschaffen eine Welt, in der jeder einzelne an jedem Ort seine oder ihre Überzeugungen ausdrücken darf, wie individuell sie auch sind, ohne Angst davor, im Schweigen der Konformität aufgehen zu müssen. Eure Rechtsvorstellungen von Eigentum, Redefreiheit, Persönlichkeit, Freizügigkeit und Kontext treffen auf uns nicht zu. Sie alle basieren auf der Gegenständlichkeit der materiellen Welt. Es gibt im Cyberspace keine Materie.“

Zum Gefühl, einem neuen Zeitalter anzugehören, haben sowohl das Ende des Ost-West-Konfliks wie die Umwälzungen in der Ökonomie und Kommunikationstechnik beigetragen. Die materielle Produktion wird im rasanten Tempo automatisiert und durch Computereinsatz gelenkt, in immer mehr materiellen Berufen arbeiten immer weniger Menschen. Die körperliche und mechanische Arbeit gerät aus dem Blick. Eine immer größere Zahl junger Menschen drängt in die Medien, in den Kommunikationsbereich und die Informationsverarbeitung und beschäftigt sich mit dem Austausch von Zeichen und Symbolen. In diesem abstrakten „Zuhause des Geistes“ (J. P. Barlow) spielen materielle Grundlagen vordergründig keine Rolle mehr.

Der 1998 verstorbene Philosoph und Politikwissenschaftler Panajotis Kondylis hat früh darauf hingewiesen, daß die Verflüchtigung der Materie jedoch nur eine scheinbare ist und eine höchst materielle Basis besitzt. Die Vorstellungen über die neue Informationsgesellschaft sind in den modernen Industrieländern entstanden, die einen überproportionalen Anteil an Energien und Rohstoffen verbrauchen und einen überdurchschnittlichen Reichtum generieren. Für sie stellen sich Fragen nach der Handelsfreiheit, dem Schutz der Seewege, dem Zugang zu den natürlichen Ressourcen inklusive zu den für die Computerherstellung notwendigen „seltenen Erden“.

Das sind eminent politische, wirtschaftliche und militärische Fragen, die für die Künder der digitalen Gesellschaft aber keine Rolle spielen. Ihr Reden von der Freiheit im Netz, der informationellen Selbstbestimmung und „Liquid democracy“ bewegt sich in einem entpolitisierten Paralleluniversum. Politisch stehen die Piraten für den Traum von einer Welt ohne Politik, soziologisch vertreten sie die „digitale Boheme“ und die sogenannten Kreativberufe, die sich in den Metropolen tummeln und symbolische Güter verfertigen und tauschen.

Der Traum, inner- und zwischenstaatliche Konflikte durch digitale Kommunikation zu verflüssigen und aufzuheben, ist längst widerlegt. Die Affäre um Wikileaks und seinen Gründer Julian Assange zeigt, daß mit dem Cyberspace nur ein neues Schlachtfeld eröffnet wurde. Gleiches gilt für große Bereiche von Wikipedia, die von digitalen Weltanschauungsgarden okkupiert sind. Zu diesen Fragen hört man von den Piraten – nichts!

Politik heißt für sie höchstens Sozialpolitik in eigener Sache. Einen ungeheuren Schock in ihrem Wählermilieu löste vor zehn Jahren die Pleite der New Economy aus, die auch angeschlossene Subkulturen wie die Pop-Literatur in den Abgrund riß. Die Euro- und Schuldenkrise hat das ökonomisch-soziale Fiasko vollendet. Zurückgeblieben ist ein Prekariat mit ungebrochenem individuellen Freiheitsanspruch, doch ohne stabiles Einkommen und Familienstrukturen. Die Internet-Individualisten stellen fest, daß die virtuelle Welt weder sozialen Halt noch Schutz vor den Lebensrisiken bietet. Also suchen sie sich mit sozialrevolutionärer Attitüde unter die Fittiche des Staates zu flüchten, der ein bedingungsloses Grundeinkommen und kostenfreie öffentliche Verkehrsmittel garantieren soll. Unausgesprochen setzt die Piraten-Boheme darauf, daß es genügend materielle Produzenten gibt, die für sie die finanziellen Voraussetzungen schaffen.

Die Piraten im Berliner Abgeordnetenhaus sind bisher nur mit der Idee aufgefallen, die Deutsche Oper zu schließen und das eingesparte Geld an die Netzkünstler umzuleiten. Gewiß sind subventionierte Theater und Opernhäuser nicht sakrosankt, doch die Arbeit, die dort geleistet wird, muß bestimmten objektiven Maßstäben genügen. Die Schauspieler, Sänger und Musiker haben eine anstrengende Ausbildung hinter sich, die Intendanten und Regisseure können weder die Zuschauerzahlen noch die Kritik ignorieren. Die Piraten dagegen wollen bedingungslos als Künstler anerkannt und finanziert werden, wobei der Kunstbegriff bis in den Bereich der eigenen Lebensführung ausgedehnt wird – siehe den Einser-Abiturienten und gegenwärtigen Geschäftsführer der Partei, Johannes Ponader, der trotz Hochbegabung seine Hartz-4-Existenz verteidigte. Dazu paßt auch, daß sie das Urheberrecht aushebeln und das geistige Eigentum anderer in Beschlag nehmen wollen. Das Hauen und Stechen um die Abgeordnetendiäten zeigt, daß sie die Politik längst als Möglichkeit betrachten, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Ein Beamter aus dem Verteidigungsministerium wurde zum Vorsitzenden gewählt und prompt in die Springer-Zentrale geladen – zum Plausch mit dem US-Globalisten Henry Kissinger. Parteimitglieder hingegen, die erkannt hatten, daß der „Kampf gegen Rechts“ und die Holocaust-Sakralisierung ein Mittel sind, um politische und gesellschaftliche Debatten zu verhindern, wurden unter intensiver Anteilnahme der Medien kaltgestellt. Nun haben die Piraten auch noch angekündigt, sich im kommenden Bundestagswahlkampf „europafreundlich“ zu verhalten.

Damit haben sie selbst die objektive Funktion bezeichnet, die ihnen von Anfang an zugewiesen war: das vorhandene Protestpotential zu neutralisieren und die Etablierung einer programmatisch konturierten Partei, die sich gegen die sogenannte Euro-Rettung wendet, zu verhindern. Diesen Auftrag hat das Parteien-Phantom inzwischen erfüllt. Was jetzt noch kommt, ist bereits egal.

Foto: Mitglieder der Piratenpartei Sachsen sitzen am 22. September 2012 auf dem Landesparteitag im sächsischen Olbernhau hinter einer Gummi-Ente mit Augenklappe: Traum von einer Welt ohne Politik

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